WICHTIGES RUNDSCHREIBEN DER IG «FAIR-WAHRT?»
GIBT ES EINE ZUKUNFT FÜR UNS?
Liebe Mitglieder des Fördervereins für die IG «Fair-wahrt?»,
Liebe Gönnerinnen und Gönner,
Liebe Freunde und UnterstützerInnen,
Sehr geehrte Damen und Herren
Die Adventswochen, die anstehenden Feiertage ermahnen uns, dass das Jahr 2020 und damit auch das aktuelle Vereinsjahr bald Vergangenheit sein wird. Und das könnte schon der Übergang sein zum zweiten Thema dieses Rundbriefes. Doch zuvor das Erste und das ist natürlich zunächst, Allen frohe Festtage zu wünschen und ein für Euch Alle (und natürlich auch für meine Wenigkeit) in jeder Hinsicht glückliche(er)es neues Jahr 2021 innig zu erhoffen. Wir wissen indes nur zu gut, wie einschneidend für wohl die Meisten unter Euch, ganz besonders euch Verwahrten, die Pandemie-Massnahmen waren und sind. Wir hoffen, dass es bald vorbei sein wird und wenigstens Besuche wieder möglich werden.
Das zweite Thema ist nicht nur für mich und gewiss für Viele unter uns unerfreulich, es ist im Grunde eine Tragödie — ein Armutszeugnis für unser Justizsystem:
Nach dem heutigen Stand der Dinge und dem bisherigen Resultat unserer sorgfältigen Erwägungen wird nicht nur das Vereinsjahr 2020, sondern wohl sehr bald die IG «Fair-wahrt?» (folgend: ‚\G-Fw’) und damit voraussichtlich auch deren Förderverein Geschichte werden. Dies aus einer Reihe von Gründen:
Weshalb eine Weiterführung der IG-Fw nicht nur Zeit- und Kraftverschwendung wäre, sondem den Mächtigen weiter gelegen käme
1. FEIGENBLATT FÜR MACHT – AUF UNSERE KOSTEN
1. Wir sollten schon immer bloss Feigenblatt sein
Wir haben trotz aller unserer Anstrengungen, trotz unzähligen‚ Apellen, Vorstössen und Argumenten, direkt oder über diverse Medien bei Behörden, Justiz, Wissenschaft und Politik in zehn Jahren, offen gesagt, so gut wie nichts bewirken können. Nicht einmal eines der bescheidenen unter unseren Zielen wurde erhört, geschweige denn auch nur im Ansatz erreicht. Vielmehr haben kaum übersehbare Anzeichen langsam aber sicher einen längst gehegten Verdacht zur letztendlichen Überzeugung gebracht: unsere IG-Fw und ihr Förderverein dient beiden zuständigen behördlichen und politischen Verantwortlichen im Grunde lediglich als ein ‚Feigenblatt‘ zur Bedeckung ihrer Tatenlosigkeit. Das aber wollen wir nicht mehr sein.
2. Lebenslang für ‘gewöhnlich’ Verwahrte
Wenn in rund zehn Jahren nicht einmal die Bereitschaft entstand, wenigstens die auch für die Schweiz verbindlichen Europäischen Menschenrechte (auch) für Menschen in faktisch unbegrenzter Verwahrung umzusetzen, dann wird man dies auch weiterhin nicht tun wollen. Seit die vom Volk angenommene «Lebenslange Verwahrung extrem gefährlicher Straftäter» (Art. 64’ StGB, in Kraft seit 1. Aug. 2008) wegen menschen-rechtlichen Bedenken nicht angewendet werden kann, sollen nun ’stillschweigend‘ praktisch alle Menschen in ‘gewöhnlicher‘ Verwahrung (Art. 64′ StGB, in Kraft seit 1. Jan. 2007) bis an ihr Lebensende hinter Gittern verkümmern. Und dies in den meisten Fällen unter einem Strafhaftregime, auch noch Jahre und Jahrzehnte nachdem eine Grundstrafe längst verbüsst wurde!
3. Rechtswidrige ‚Neuauslegung’ von Art. 64‘ StGB
Das nennt sich Missachtung der verbindlichen Menschenrechte und des Volkswillens. Und es ist eine willkürliche und durch keinerjei Rechtsgrundlage gestützte Anderung der Praxis bei Verwahrungen mit äusserst weitreichenden Folgen für alle Betroffenen.
4. Rund 8 von 10 Gefährlichkeitsprognosen falsch
Dabei brachten schon vor Jahren diverse Langzeitstudien zutage, dass zwischen 75% und 90% der forensischen Gefährlichkeitsprognosen in gerichtlich angeordneten psychiatrischen Gutachten sogenannte «false-positives» sind, sich also rund acht von zehn Prognosen einer erhöhten Gefährlichkeit als falsch herausstellten (siehe u.a. unser Bulletin 7 v. Mai/Juni 2013, unser Rundschreiben vom 17.09.2017; Rechtsanwalt Mathias Brunner im «plädoyer» Magazin für Recht und Ordnung» 1/2013; oder unser Schreiben an Bun.desrätin Simonetta Sommaruga vom 1. Mai 2012. Gestützt u.a. auch auf Dr. Mario Gmür auf „TimeToDo“, Freitag 27.04.2012 auf SF5, und ZDF-ZOOM vom Donnerstag, 03.05.2012 auf ZDF).
Mit anderen Worten: die Verantwortlichen von Politik und Justiz nehmen wissentlich in Kauf, dass rund 8 von 10 Menschen in der Verwahrung nicht nur mangels Gefährlichkeit da nicht hingehörten, sondem sogar möglichst nie mehr freikommen sollten.
II. RESIGNATION BEI VERWAHRTEN?
1. Nötigungstaktik seitens Teilen des JVA-Personals
Auch kann an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass die Moral, bzw. das Interesse und die Unterstützung vieler Mitglieder, bzw. Teilnehmer der IG-Fw von Jahr zu Jahr nachliess. Das darf nicht verwundern, wenn man weiss, dass vielen Gefangenen, gerade auch von Seiten gewisser Aufseher oder anderen ‚Autoritätspersonen der Anstalt von einer Mitgliedschaft bei uns aktiv ‘abgeraten’ wurde. Gemäss öfters gehörten Auskünften dem Schreiber gegenüber geschah solches auf, gelinde gesagt, höchst fragwürdige Weise: Der Schreiber selber kann bezeugen, dass beispielsweise mehreren Mitgefangenen auf seiner Abteilung (damals ASP, Pöschwies), die sich als Teilnehmer einschreiben liessen, dann wieder austraten und dies damit begründeten, sie wären dazu durch den Leiter der Gruppenaufsicht mit dem Verlust bisher erlangter Privilegien genötigt worden.
2. Dämonisierungstaktik der Rechtspopulisten
Seit den Neunzigerjahren erstarkte zunehmend der Rechtspopulismus auch in der Schweiz. Durch säen von Angst und Hass in der Gesellschaft erstrebten sich rechts-aussen Parteien mehr Macht und Einfluss. Durch Besetzung von Schlüsselpositionen in der Justiz durch Gleichgesinnte und dank Verbandelung mit den Sensationsmedien festigte man im Volk die Gewissheit:
a) Ihr werdet von ‘extrem gefährlichen’ Tätern im Land an Leib und Leben bedroht.
b) Diese müsse man über die Strafe hinaus präventiv wegsperren.
c) Es gäbe schweizweit zwar nur eine ganz kleine Gruppe von «vielleicht 20 bis 25» solcher‘ extrem gefährlicher Täter*.
d) Die aber verdienten denn auch Härte statt ‘Kuscheljustiz‘.
e) Nur damit könne absolute Sicherheit gewährt werden.
(‘Kaum bemerkt vom Volk:
1. Unter den Verwahrungsartikeln 59 und 64 StGB vegetieren hierzulande heute um die 1000 präventiv Verwahrte, in Gefängnissen dahin (etwa jeder siebte Gefangene!), nicht wenige schon seit Jahrzehnten und es werden immer mehr.
2. Jeder und jede Verurteilte für eine mit einer Höchststrafe von 5 Jahren oder mehr bedrohte Straftat riskiert ev. Verwahrung, auch wenn das Strafmass weitaus tiefer oder sogar nur bedingt ausfiel, z.B. weil die Straftat relativ geringfügig war. Denn immer mehr Staatsanwälte erwirken dank der geschürten öffentlichen‚ Angst auch via die allzu geme dramatisierenden Sensationsmedien selbst bei solchen Urteilen fragwürdige Gefährichkeitsgutachten, an welche sich ‚dann die RichterInnen gebunden fühlen – siehe hiervor unter 1. 4.!).
3. Entmutigungstaktik gegen eine zu starke IG-Fw.
Leider liessen sich auf der anderen Seite viele Verwahrte durch solche öffentliche, pauschalisierende Dämonisierung nur zu leicht entmutigen. Sie werden depressiv, bekommen dagegen Psychopharmaka verschrieben, die ihnen häufig sogar gegen ihren Willen aufgezwungen werden. Solches belastet nicht nur die Gesundheit solcher Menschen, sondern wirkt sich auch negativ etwa auf soziale Kompetenz und Empathie aus und fördert die Vereinsamung und Resignation. Hinzu kamen über die Jahre immer wieder diffamierende Berichte in der Sensationspresse gegen den Gründer der IG-Fw, die irreführen und abschrecken sollen.
II. DIE FINANZEN
1. defacto Freiwilligkeit bei Jahresbeiträgen
Es gehörte von Anfang an zu unserer Philosophie, MitgliederJahresbeiträge insbesondere für Betroffene Mitglieder nicht nur möglichst klein zu halten (für Letztere Fr.25/Jahr), sondern sie de facto als freiwillige Zahlungen zu behandeln. So haben wir explizit darauf verzichtet, für Rückstände Mahnungen zu versenden und haben zum Vorneherein auch jegliche Form der Eintreibung gänzlich ausgeschlossen.
2. Abwärtstrend, fehlende Mittel
Anfangs ging diese Taktik mehrheitlich auf, nicht wenige zahlten gönnerhaft mehr ein als vorgegeben. Das hiervor bisher ‚Aufgezeigte hat indes über die Jahre die Zahlungsmotivation zunehmend verringert. Unsere finanzielle Situation ist in den letzten Jahren entsprechend karger geworden. Kaum mehr Mitglieder-Jahresbeiträge trafen und treffen ein.
Dies hier zu vermerken, soll allerdings nicht unser aller Dankbarkeit für das Vertrauen einzelner Mitglieder schmälern, die sich nicht entmutigen liessen und dennoch hin und wieder grosszügige Beträge überwiesen! Herzlichen Dank!
IV. BEVORSTEHENDE VAKANZ IN DER LEITUNG
Vorwiegend persönliche Gründe – keine Nachfolge in Sicht
Der Schreiber, Initiant und Mitgründer der IG-Fw kann alleine schon aus persönlichen Gründen seine Führungsaufgabe nicht länger wahrnehmen. Er wird, solange ihm Zeit bleibt, allerdings nicht in Tatenlosigkeit verfallen. Sollte sich im letzten Moment doch noch ein Nachfolger oder eine würdige Übernahmeorganisation finden, so wäre er auf Anfrage gerne bereit, aus dem Hintergrund nach seinen begrenzten Möglichkeiten beratend mitzuwirken. Auch wird er weiterhin für einzelne Hilfesuchende da sein. Hauptsächlich will er sich jedoch künftig mit persönlicher Öffentlichkeitsarbeit befassen (z.B. Herausgabe von Büchern zum Thema). Leider blieb auch unsere in letzter Zeit intensivierte Suche nach neuer Besetzung der IG-Fw-Leitung bislang ohne Erfolg. Gleiches gilt für unsere Suche nach möglichen integren, geeigneten und sachkundigen “Erben’ der IG-Fw und deren Fördervereins (siehe dazu aber weiter unten!). Wer aber dafür geeignete Personen oder Institutionen kennt, der melde sich bei uns – jetzt!
Letztlich führte die Corona-Pandemie, und die damit einhergehenden Einschränkungen, speziell was Besuchssperren in Strafanstalten über den Grossteil dieses Jahres betrifft, zu einer Verunmöglichung seit dem Frühjahr von Vorstandssitzungen. Schon die diesjährige Hauptversammlung mussten wir absagen (s. Rundbrief an die Aktivmitglieder vom vergangenen Frühjahr).
Die neueste, uns vor wenigen Tagen von Herrn lic iur. David Mühlemann angebotene Möglichkeit sähe vor, dass seine Nichtregierungs-Organisation «humanrights.ch» in Bern (siehe unsere mehrfachen Mitteilungen zu der von ihm aufgebauten Gratis-Telefon-Rechtsberatung für Gefangene) eine Hinterlegung bei humanrights.ch der Adressen unserer Mitglieder, IG-Fw-TeilnehmerInnen, GönnerInnen sowie weiterer UnterstützerInnen. Da würden sie gesichert verbleiben für den Fall, dass sich doch noch eine Möglichkeit der Weiterführung bzw. Übergabe von Verein und IG-Fw an eine geeignete Institution ergäbe.
Der Vorstand wird dies sicherlich in Betracht ziehen.
Dazu schon hier vorsorglich der Aufruf an Alle, die ihre Adresse nicht bei humanrights.ch hinterlegt haben wollen, sollen uns dies an die Adresse unseres Vereins mitteilen:
Förderverein für die IG «Fair-wahrt?», Badstrasse 12, CH-8634 Hombrechtikon;
eMail: info@verwahrung.ch
Der endgültige Beschluss über eine Auflösung der IG-Fw und deren Fördervereins steht noch aus. Wir werden wieder Mitteilung machen, sobald ein formeller statutengemässer Beschluss feststeht.
Abschliessend noch mein Appell an jeden einzelnen Verwahrten (nach welchem Artikel auch immer): Gib nie die Hoffnung auf. Sie hilft dir zumindest, deine geistige, seelische und körperliche Gesundheit auf bestmöglichem Niveau mindestens zu erhalten, wenn nicht gar zu stärken («was mich nicht bricht das stärkt mich»). Es funktioniert bei mir, seit bald drei Jahrzehnten schon!
Nochmals frohe Festtage allerseits und die besten Wünsche fürs neue Jahr!
Die IG-Fw-Leitung
Die Schweiz zeigt heutzutage einen besorgniserregenden Hang zur Intoleranz. Immer mehr Menschen geraten ins Visier: Asylsuchende und allgemein Ausländer (ausser Touristen, Investoren, Sportstars), sexuelle Randgruppen, Raucherinnen… Der Hang zur Ausgrenzung wird immer stärker.
Eine wahre Angst- und Hasspolitik trifft v.a. straffällig gewordene Mitmenschen. Betrieben wird sie u.a. von gewissen machtbesessenen Politikern und mitverbreitet durch besonders profithungrige Medien. Der längst salonfähige Ruf nach mehr Härte im Vollzug und die gleichzeitige Verhöhnung vollzugsbegleitender Präventions- und Resozialisierungsbemühungen als ‚Kuscheljustiz‘ tragen kaum bei zur Verminderung von Rückfallrisiken und zur Beruhigung der ständig neu geschürten Kriminalitätsängste.
Um diesen zu begegnen sind die Gerichte zwar vermehrt dazu bereit, anstelle einer ’normalen‘ Verwahrung nach Art.64, eine sogenannte ‚kleine‘ solche nach Art.59 zu verhängen*. Der Täter soll eine Chance bekonmen, sich zu bewähren, denn das verlangt ja auch die Menschenrechtskonvention. Gleichzeitig aber will man auch dem Ruf nach mehr Härte nachgeben – und lässt deshalb auch kaum einen der immer zahlreicheren 59er mehr raus, erneuert stattdessen wieder und wieder die 5-Jahreperiode* oder wandelt diese Massnahme letztlich in den 64er um. Es braucht dazu lediglich irgendwie negative oder auch nur skeptische Therapieberichte oder Gutachten. Und welche/r Therapeut/in, Gutachter/in (oder Richter/in) ist heute noch dazu bereit, Verantwortung zu übernehmen für eine optimistische Prognose? Wo er oder sie doch damit rechnen muss, im Falle eines Rückfalls öffentlich ‚in der Luft zerrissen‘ zu werden! Auf diese perfide Weise bleibt alles an der verwahrten Person selbst hängen; sie ist ’selber schuld‘, denn sie hat sich eben ‚in der Therapie nicht bewährt‘; das ‚beweisen‘ doch die Therapieberichte, das ‚beweist‘ doch das Gutachten. Soll nun der Gefangene doch irgendwie deren Unwahrheit beweisen…
(* siehe Anhang: Erklärung zu Art.59-64 StGB)
Beträfe dies, wie etwa der Leiter des zürcherischen PPD in den Anfangsjahren seines Wirkens in der Schweiz nicht müde wurde, öffentlich zu beteuern, lediglich „eine ganz kleine Gruppe“ von „etwa 20 bis höchstens 40 extrem gefährlichen, untherapierbaren Hochrisikotätern“, dann spräche auch niemand von einem kollektiven Sicherheitswahn. Aber mittlerweile sitzen offenbar schon weit über 1000 (!) Menschen hierzulande in einer unbefristeten geschlossenen Massnahme, in einer ‚kleinen‘ oder ’normalen‘ Verwahrung. Weit mehr als im 10x grösseren Deutschland! Und es werden immer mehr – und sie werden immer älter…
Und damit nicht genug: sie vegetieren zur grossen Mehrheit in Strafanstalten dahin (dabei seien doch Massnahmen ‚keine Strafen‘). Geschlossene Therapieplätze gibt es landesweit viel zu wenige, sodass eine grosse Zahl von 59ern auch über die Dauer ihrer Haftstrafe hinaus jahrelang unter einem gewöhnlichen Strafregime in Haft bleiben. Und 64er vegetieren teilweise schon um ein Vielfaches länger in Strafanstalten als die Haftstrafe, zu der sie verurteilt wurden. So befindet sich zum Beispiel ein Afroamerikaner nach einem Strafurteil von „9 Monaten bedingt mit vollzugsbegleitender therapeutischer Massnahme“ schon bald 12 Jahre unter einem harten Strafregime in Haft. Dies, weil er unter Aphasie (Sprachverlust) leidet und deshalb schliesslich als untherapierbar eingestuft – und verwahrt wurde. Eine schier unglaubliche Geschichte, aber nichtsdestotrotz nur eine von vielen, die uns in unserem Rechtsempfinden eigentlich aufs Höchste alarmieren sollten.
Von all dem weiss die Öffentlichkeit wenig, denn wenn das Thema Verwahrung Schlagzeilen macht, dann vorwiegend negative. „Von Kriminellen droht Gefahr – daher mehr Sicherheit, mehr Härte“! Dafür setzt man sich doch gerne ein; Kriminalität ist schlecht, Sicherheit ist gut, so einfach
ist das. Hinterfragt wird dabei kaum etwas; „Die werden’s ja schon wissen, die Behörden“. Details interessieren da kaum, ausser jene, welche die Schändlichkeit eines Verbrechens in seinen schauerlichen, spannenden Einzelheiten ins Rampenlicht bringen. Diese lässt man vom Sofa aus in der wohligen Stube auf sich wirken, wird dabei vielleicht flüchtig an eigene dunkle Seiten erinnert – und stimmt umso stärker mit ein in den Ruf nach radikalen Mitteln gegen dieses „Verbrecherpack“. Um so rasch vor die eigenen Seelenabgründe wieder den Schleier zusammen zu ziehen, weiterhin
den Anschein von ‚Unfehlbarkeit‘ zu bewahren, wie es das Umfeld und man selber stets von einem erwartet. Und wer wirklich ohne Schuld zu sein glaubt, gibt sich erst recht empört, fühlt sich indes unbeteiligt; ihr oder ihm droht von behördlicher Seite gewiss nichts; niemals würde er oder sie einen Menschen umbringen, niemals vergewaltigen, rauben, brandschatzen. Denn nur für diese Anderen, für die schlimmen Verbrecher ist das Gesetz doch gedacht.
Dass auch den, scheinbar oder vermeintlich, Unfehlbaren dabei, das Unheil selber auch immer näher zu kommen droht – begünstigt nicht zuletzt durch eigenes Mitschwimmen im populistischen Strom -, das merken sie nicht. Das Präventivstrafrecht bedroht bislang zwar nur Straftäter – unter diesen allerdings längst auch ‚kleine Fische‘ (der 59er, der später auch in die 64er-Verwahrung führen kam, droht nicht nur bei Verbrechen; er kam ausdrücklich schon bei „Vergehen“ verhängt werden!)·.
Tatsache ist, der Sicherheitswahn dringt doch längst auch in das ganze gesellschaftliche Zusammenleben ein: immer mehr Überwachung, Ausspähung, Aushorchung, Staatstrojaner, Blacklists… Auch die Wirtschaft sammelt zunehmend Daten, über uns alle, erstellt – wie die Geheimdienste – fleissig Profile, speichert unsere individuellen Gewohnheiten, Interessen, Neigungen, teilt uns ein in Raster. Wie lange, bis der Überwachungsstaat, bis die ‚Präventionsforensiker‘ sich auch diese Daten über uns aneignen wollen? Wie verlockend wäre da eine Ausweitung des neuen Präventionsstrafrechts zu einer weiteren, einer ‚effizienteren‘ Prävention? Erst diese bietet doch ‚unfassende Sicherheit‘! Prävention schon vor der ersten Tat!
Werden also bald auch, zwar bisher vielleicht unbescholtene, aber irgendwie auffällige, ‚andersartige‘ oder auch ‚unbequeme‘ Menschen erfasst? Nur ein kleiner Schritt wäre es dann noch, bis auch über diese Gefährlichkeitsprognosen erstellt würden, um so all jene zu eruieren, welche irgendwann in der Zukunft eine Straftat – vielleicht gar eine schwere solche – begehen, eine mögliche Gefahr für die Allgemeinheit darstellen könnten. Die Computerprogramme dazu sind ja längst in Betrieb, es bräuchte ja nur eine Erhöhung der Speicherkapazitäten. Schon seit Längerem errechnen sie Gefährlichkeitsgrade. Gegeneinander aufgewogene und hochgerechnete persönliche Kriterien aus der Vergangenheit, dem früheren und heutigen Umfeld, dem Krankheitsbild, den Gewohnheiten undsoweiter; sie alle liefern den Wahrscheinlichkeitsquotienten. Soundsoviele Punkte = ‚Gefährlichkeitsgrad sowieso‘. Bisher erst bei Angeklagten und Verurteilten, aber immer öfters auch schon bei Ersttätern. Das Kriterium ‚Vorstrafen‘ wiegt dabei kaum schwerer als beispielsweise ‚Geschiedene Eltern‘. Brandgefährlich wird es für den Verurteilten, wenn er seine Unschuld beteuert. Das gibt happig Punkte für ‚uneinsichtig‘ und daraus kam leicht ‚untherapierbar‘ werden. Ein ziemlich sicherer Weg in die Verwahrung, denn im Angebot steht einzig ‚deliktzentrierte Therapie‘, und hierfür ist nun mal ein Geständnis unabdingbar.
Wie lange noch, bis ganze Bevölkerungsgruppen – natürlich ‚im Interesse der Sicherheit‘ – ausgelotet, durchleuchtet und schliesslich in ‚Gefährlichkeits-Kategorien‘ eingeteilt werden? Pädophile wohl als Erstes. Auch wenn die grosse Mehrheit von ihnen noch nie ein Wässerchen trübten. Und auch wenn (wie inzwischen allgemein bekannt) die überwiegende Mehrheit der Fälle sexueller Gewalt an Kindern durch Nicht-Pädophile begangen werden, zum Beispiel heterosexuelle Väter, Onkel, ältere Geschwister, andere Menschen aus dem familiären Umfeld. „Trotzdem, weg mit dem Pädo-Pack!“ (man hört den Schrei schon). Denn auch wenn deren Mehrheit ungefährlich sei; lieber zu viele davon – vielleicht zu Unrecht – einsperren als einen zuwenig. Unter den heutigen Verwahrten sind ja laut diversen Studien auch bis zu acht von zehn zu Unrecht weggesperrt; die sogenannten ‚false positives‘, deren Gutachten sie fälschlioherweise als ‚gefährlich‘ taxierte. Wenn die Allgemeinheit also bereit ist, 10 Menschen dauerhaft wegz sperren, um sich so vor 2 möglichen Tätern zu schützen, dann wird sie gleiches bald auch bei anderen tun wollen, also nicht nur bei Verurteilten.
Es gibt ja noch unzählige weitere Randgruppen und Minderheiten, die man gerne erfassen würde.
Was ist mit den Sadomasochisten? Den Exhibitionisten? Den Zoophilen? Den Nekrophilen? Und Fettleibige oder Raucher, gefährden die nicht auch die Allgemeinheit, belasten sie nicht das Gesundheitswesen und die IV überdurchschnittlich? Und es mag ja auch unter den Muslimen nur eine kleine Minderheit wirklich gefährlich sein, aber rechtfertigt da nicht die Schreckensvision auch nur eines einzigen verheerenden Attentats ohne Weiteres das Wegsperren möglichst vieler davon? „Und überhaupt, wer will schon Minarette in unserer heilen Schweiz… „
Früher gab’s sowas ja schon, noch gar nicht so lang ist’s her. Man verliess sich dabei etwa auf das Vermessen von Köpfen, trieb mit Elektroschocks „den Teufel aus“. Eugeniker schrieben vor, welches menschliche Leben lebenswert sei. Unzählige Menschen – Kinder und Erwachsene – waren betroffen. Über lange Zeit wurde ‚die Brut‘ von in irgend einer Art und Weise Gestrauchelten, aber auch von Armen, Alkoholikern, Unverheirateten, manchmal sogar Kinder aus Ehen mit gemischter Konfession, ausgesondert, eingesperrt, viele darunter psychiatrisch versorgt und, vielleicht nicht auf Herz und Nieren, aber auf Geist und Hirn untersucht. Schliesslich wurde auch der Nachwuchs von Zigeunern und anderen Fahrenden glattweg entführt und geraubt, eingesperrt und oft an Bettrahmen gefesselt.
Damit nicht genug, unzählige dieser Kinder wurden dann von ihren ‚Betreuern‘ ausgebeutet für harte Arbeit. Und für die Befriedigung sexueller Perversionen. Und immer wieder brutal verprügelt. Viele mussten wie Laborratten für Medikamentenexperimente herhalten. Niemand weiss, wie viele bei alledem qualvoll starben. Oder irgendwann in ihrem weiteren Leben tatsächlich zu einer Gefahr für die Gesellschaft wurden. Wohl kaum wegen ihrer ‚Andersartigkeit‘. Sondern weil die damalige Gesellschaft sich ihrer entledigt hatte, sie in unzähligen Fällen unbekümmert sadistischen, machttrunkenen oder profitgierigen Individuen überliess, allein gelassen in ihren Qualen.
Respekt vor den Mitmenschen, Vertrauen in die Gesellschaft; sind sie nicht das Mindeste, was es für ein durchwegs gesetzestreues Leben bräuchte? Wer könnte ein Leben lang vollkommen gesetzestreu bleiben ohne diese? Wer von den heutigen Rufern nach ‚Sicherheit‘, von den neuerlichen Verfechtern der Wegsperrmentalität, hätte dies geschafft, wenn ihm oder ihr gleiches widerfahren wäre? Wer will sich allen Ernstes wundern, wenn viele dieser früheren Opfer, falls sie das alles überlebt haben, heute in Strafanstalten erneut unbefristet weggesperrt sind? Ob vielleicht zu Recht oder auch – einmal mehr – zu Unrecht…
Wohl nicht viel anders als damals schon vertraut die Allgemeinheit auch heute ihren Obrigkeiten mehr oder weniger blind. „Die werden’s schon wissen, die Behörden“. Die grossen Medien, welche eine übergeordnete Kontrollfunktion ausüben sollten, tun in diesem Bereich wenig bis gar nichts – oder übernehmen sogar die Führung beim Ruf nach immer härterem ‚Durchgreifen‘, immer schnellerem und längerem Wegsperren, immer mehr ‚Sicherheit‘. Letztlich ist auch heute die Mehrheit der Menschen mit sich selbst, mit existentiellen Alltagssorgen oder der Sicherung und möglichst weiteren Vergrösserung des erlangten Wohlstands beschäftigt. Und mit immer waghalsigeren Freizeit-Adrenalinkicks. Und vielleicht auch mit der mehr oder weniger heimlichen Befriedigung eigener niederer Gelüste oder Untugenden. Da bleibt kein Raum, sich auch noch um Rechtmässigkeit und Verhältnismässigkeit oder gar um Sinn oder Unsinn von heutigen Ausgrenzungen zu sorgen. Zumal man ja die heutige Wegsperrmentalität selber auch wollte und will. Die Einen mehr oder weniger aktiv und lautstark, die Andern passiv, durch wegsehen.
Und schliesslich ist man doch derzeit ganz grossherzig dabei, dieses frühere ‚dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte‘ aufzuarbeiten und ‚wiedergutzumachen‘, wo seinerzeit Kinder und auch Erwachsene massenweise zu Unrecht weggesperrt und misshandelt wurden. „Ach, wie unbegreiflich blindlings hat man damals doch den Obrigkeiten und Institutionsbetreibern vertraut, was waren das nur für schlimme Zeiten! Aber gottseidank waren’s Andere, nicht wir, die damals so herzlos wegsahen, als sie hätten hinsehen und einschreiten sollen.“ Ja, damals, gleich zu Beginn, nicht erst 30, 50 oder noch mehr Jahre später, nicht wahr?
Denken wir wirklich so? Dürfen wir heute unsere ‚Hände in Unschuld waschen‘?
Gedankenlos und blind für die neuerliche Ausgrenzungslust, den heutigen Sicherheitswahn?
Glauben wir wirklich, heute reinen Herzens genug zu sein, um da mitzumachen?
Ohne richtig hinzusehen?
ERKLÄRUNG ZU ARTIKEL 59-64 StGB, welche:
eine geschlossene Massnahme ohne fixes spätestes Entlassungsdatum regeln
(mit Therapie Art. 59 1-4, ohne Therapie Art. 64 1-4 und schliesslich 64.1bis)
Art.65.1 regelt die Umwandlung von Art.64 in Art.59, Art.55.2 hingegen die nachträgliche Verwahrung (bei jemandem, der ’nur‘ zu einer Zeitstrafe verurteilt worden war, jedoch später, also beliebig lange nach Rechtskraft des Urteils, doch noch nach Art.54.1 verwahrt werden soll).
Es gibt also grundsätzlich drei Möglichkeiten, jemanden für ungewisse Zeit, allenfalls bis zu seinem Lebensende, zu inhaftieren:
– Art.59.1-4 (die sogenannte „kleine Verwahrung“): Maximal 5 Jahre, verlängerbar unbegrenzt um je weitere 5 Jahre. Das Gericht kann (auch nach Rechtskraft des ursprünglichen Urteils) auf Antrag der Vollzugsbehörde den Art.59 in eine Verwahrung nach Art.64 umwandeln, etwa wenn die Therapieversuche erfolglos erscheinen.
– Art.64.1-4 (die sogenannte „gewöhnliche \/erwahrung“: Kein Maximum, jedoch erstmals nach 2 Jahren, dann jährlich zu überprüfen – was in der Realität in den wenigsten Fällen eingehalten wird und wenn, dann meistens nur ‚pro forma‘, ohne eigentliche neue Beurteilung. Kann theoretisch irgendwann in Art.59 umgewandelt werden. Eine mit der Verwahrung ausgesprochene Haftstrafe muss erst ganz abgesessen werden, bevor die \/erwahrung beginnt.
– Art.64.bis: Die „lebenslange Verwahrung“ (nach der angenommenen Volksinitiative). Sie wird nicht periodisch überprüft (was sich eigentlich nicht mit den Menschenrechten verträgt). Nur dann, wenn „neue wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass der Täter so behandelt werden kann, dass er ( … ) keine Gefahr mehr darstellt“, muss sie überprüft werden.
Menschenrechtswidrig ist mit Sicherheit in allen drei Fällen, dass zu einer der drei Massnahmen Verurteilte grossmehrheitlich in Strafanstalten, also unter einem Strafregime eingesperrt sind (insbesondere die nach Art.64 Verwahrten). Dies dürften sie nur, solange sie noch ihre Zeitstrafe absitzen (welche bei Art.64 der Massnahme vorausgeht). Auch ein Grossteil der zu Art.59 Verurteilten wartet, Viele darunter schon jahrelang, im gewöhnlichen Strafvollzug, ohne Therapieangebot.
Merke, dass laut Art.59.1a. jemand auch wegen einem „Vergehen“ in eine potentiell endlose geschlossene Massnahme geraten kann, die zudem später auch in einen 64er umgewandelt werden kann. Somit ist Art.64.1, welcher schwerere Straftaten voraussetzt, insofern Makulatur, dass auch nach „Vergehen“ via den 59er eine Verwahrung nach Art.64 möglich ist (und durchaus nicht selten vorkommt). Zudem ist durch die „Höchststrafe von 5 Jahren oder mehr“-Klausel ohnehin auch der Weg in die Verwahrung ‚frei‘ für einen sehr grossen Straftaten-Katalog mit auch sehr vielen möglichen kleineren Delikten.
Noch ein Hinweis zu den Begriffen „Geschlossene Massnahme“ und „Verwahrung“: man kann sowohl Art.59 wie auch Art.64 so oder so benennen. Beides sind (im ‚Unterschied‘ zu Strafen) geschlossene Massnahmen und beides sind eine Form der Verwahrung.
Der Wandel begann 1994, nach einem jener Verbrechen, die eine freie Gesellschaft, auch in der Schweiz, nie absolut sicher wird verhindern können. Ein Strafgefangener auf Urlaub ermordete eine junge Frau.
Seither werden solche Fälle häufig für populistischen Opportunismus missbraucht, Angst und Hass werden geschürt. Gewisse Kreise forcieren mit Millionenbeträgen immer radikalere, Sicherheit vorgaukelnde Volksinitiativen. Nun soll auf diesem Weg gar die Menschenrechtskonvention gekappt werden, die letzte Bastion gegen Behördenwillkür. Schlimmer noch: man will künftig JustizpsychiaterInnen und RichterInnen für Straftaten von entlassenen Strafgefangenen persönlich verantwortlich machen!
Die schon länger eingeführte „Lebenslange Verwahrung“ (Art. 64.1bis StGB) wird zwar kaum je verhängt; das Fehlen periodischer Uberprüfungen ist menschenrechtswidrig. Dennoch schiesst man sogar weit übers Ziel hinaus: seither sollen schon die ’normal‘ Verwahrten (Art. 64 StGB) nie mehr freikommen. Die hier obligatorischen jährlichen Uberprüfungen sind kaum mehr als ein Feigenblatt, denn wirklich überprüft wird dabei meist gar nichts. Auch aus der sogenannten ‚kleinen‘ Verwahrung (geschlossene therapeutische Massnahme nach Art. 59 StGB, in Kraft seit 2007) kamen seither nur sehr Wenige frei; die hier geltende Höchstdauer von 5 Jahren kann unbegrenzt oft erneuert werden und der 59er kann leicht, etwa wenn die Therapie nicht erfolgversprechend scheint, nachträglich in die normale Verwahrung umgewandelt werden. Diese droht so letztlich auch nach einem Bagatelldelikt, denn Art. 59 kann ausdrücklich auch bei „Vergehen“ verhängt werden.
Gemäss Wortlaut wird die Haftstrafe „zugunsten der Massnahme aufgeschoben“. Entgegen gerichtlicher Anordnung sitzen aber die meisten 59er im Strafregime, teils jahrelang, mehrheitlich ohne Therapie. Diese Gesetzeswidrigkeit wird in Kauf genommen, denn es mangelt hoffnungslos an Therapieplätzen. Aber auch immer mehr normal Verwahrte bleiben über ihre Strafe hinaus in Strafhaft, teils schon Jahrzehnte. Dabei gehören sie da nicht mehr hin; „Eine Verwahrung ist keine Strafe“. Rechtmässig sollten Verwahrte nach Verbüssen ihrer Strafe in einer „geeigneten Massnahmeeinrichtung“ untergebracht sein. Da es solche in der Schweiz kaum gibt, schaffte man den Zusatz „oder in einer geschlossenen Strafanstalt“. So bleibt es, bis die Schweiz vom EGMR in Strassburg verurteilt wird. Das kann dauern; die Wartezeiten dort sind sehr lang!
Nun gibt es in einem Rechtsstaat ja Experten, die für eine zuverlässige Gefährlichkeitsabklärung sorgen – davon geht der freie Bürger jedenfalls aus. Und es gibt ein Recht auf Anhörung, es gilt „in dubio pro reo“ etc. Das alles sorgt nicht nur für Sicherheit, sondern gewiss auch für Fairness, denkt man.
Da täuscht man sich, denn: gleichzeitig mit der Verhärtung des Strafwesens wuchs ein Netz von rechtstaatlich fragwürdigen Taktiken zur Verhinderung von Entlassungen heran. Fehlt es, wie häufig bei sexuellen Anschuldigungen, an harten Beweisen und ist man für einen Schuldspruch auf Indizien angewiesen, dann steht oft Aussage gegen Aussage. Früher kam es zu Gegenüberstellungen, bei denen die Glaubwürdigkeit von Anschuldigungen beurteilt werden konnte. Heute geschieht dies, wenn überhaupt, einseitig via Bildschirm, Zeugen brauchen den Beschuldigten nicht in die Augen zu sehen. Dies soll dem Schutz der Opfer dienen, kann aber die Wahrheitsfindung gefährden. Beteuert eine nach einem Indizienprozess verurteilte Person weiterhin ihre Unschuld, sieht es schlecht für sie aus. Sie gilt als „uneinsichtig“ und muss mit einer Verwahrung rechnen. Verdikt „untherapierbar“. Für eine Therapiemassnahme braucht es unabdingbar ein Geständnis, denn im Angebot ist einzig „deliktorientierte“ Therapie.
Vor solchen Urteilen steht jeweils ein gerichtspsychiatrisches Gutachten, das sich zur Gefährlichkeit und Zurechnungsfähigkeit äussert. Während dies früher für Viele ein Rettungsanker vor allzu langer Haftstrafe sein konnte, ist es seit dem Wandel ein sehr gefährliches Verfahrenselement. Denn angesichts der massiven öffentlichen Diffamierungen bei einern allfälligen Rückfall; welcher Gutachter/in ist heute noch bereit, Verantwortung zu übernehmen für eine optimistische Prognose? Quasi 100ige Sicherheit, die das Volk angeblich fordert, kann und will keiner garantieren. Bei Niemandem. Man tendiert daher lieber zu einer ungünstigen Prognose. Und schon halten die Gerichte eine geschlossene Massnahme für geboten.
Wissenschaftlich gesehen halten solche Gutachten nur bis etwa zwei Jahre ihre (ohnehin fragwürdige) Zuverlässigkeit. In der Praxis aber kann eine verwahrte Person frühestens nach etwa 4-5 Jahren wieder mit der Anordnung eines Gutachtens rechnen. Die nötigen Mittel vorausgesetzt, kann er oder sie theoretisch ein Gegengutachten erstellen lassen. Davon raten viele Verteidiger jedoch ab, denn die Gerichte weisen solche Eingaben regelmässig als „Parteigutachten“ zurück oder entwerten sie zur Bedeutungslosigkeit. Die Meinung der von den Gerichten sonst regelmässig aufgebotenen Fachkapazitäten gilt nun plötzlich als irrelevant.
Im Strafgesetzbuch sind heute viele Straftatbestände in einem Sonderkatalog zusammengefasst. Jede nach einern Solchen verurteilte Person gilt als „gemeingefährlich“, unabhängig von Schwere und Umständen der Tat. Für diese Kategorie von StraftäterInnen wurde neu eine „Fachkommission“ geschaffen, die jedwelche Hafterleichterung gutheissen müsste.
Worauf Verwahrte allerdings kaum mehr hoffen können. Werden diese von Jenen, welche die verwahrte Person seit Jahren kennen (also das Vollzugspersonal, interne Werkmeister, Gefängnis-Sozialdienst, Anstaltsleitung etc.) als geläutert, erfolgreich resozialisiert und nicht (mehr) gefährlich beurteilt, kommt die erwähnte, stets geheim und ohne Verteidigerrechte tagende Kommission zum Zuge und behauptet meist das pure Gegenteil – ohne den Gefangenen zu kennen oder anzuhören. Dies sei, so wird argumentiert, unerlässlich zur Absicherung gegen ‚Blauäugigkeit‘ seitens der mit den Gefangenen in Kontakt stehenden Personen.
Beim heutigen öffentlichen Druck ist es wenig verwunderlich, dass viele Gefährlichkeitsprognosen in Tat und Wahrheit sogenannte „false positives“ sind (tatsächlich Ungefährliche als „gefährlich“ prognostiziert), wie diverse Studien schon lange erhellen. Bis zu 80 und mehr sind demnach unnötig über ihre Strafe hinaus verwahrt! Trotzdem soll man den Justizpsychiatern einfach glauben: Anders als etwa bei Zeugenbefragungen in der Strafuntersuchung gibt es bei den Erhebungen für Gefährlichkeitsprognosen weder Protokolle, noch Ton- oder Bildaufzeichnungen. Verwahrte können sich so gegen ein für sie ungünstiges Gutachten kaum wehren; enthält es Unwahrheiten, sind sie machtlos. Und selbst wenn ein Gutachten einmal günstig lauten sollte, vereitelt die Fachkommission Vollzugslockerungen mit zuweilen abstrusen Argumenten. In aller Regel folgen die Gerichte den ‚Empfehlungen‘ der Kommission.
Wie soll so ein Verwahrter seine Ungefährlichkeit beweisen können? Eine Haftstrafe kann kurz oder lang sein; sie endet an einem bestimmten Tag. Bei der Verwahrung gibt es keine Gewissheit, noch lebend frei zu werden. Das wird von den Betroffenen als endlose psychische Qual empfunden und es erscheint auch höchst problematisch hinsichtlich des Folterverbots. Von einer „ganz kleinen Gruppe von landesweit vielleicht 20 bis 30 extrem gefährlichen, nicht therapierbaren Gewalt- und Sexualstraftätern“, die es für immer wegzusperren gelte, sprach öffentlich lange Zeit der Chef des Zürcherischen PPD (Psychiatrisch-Psychologischer Dienst). 20 bis 30? Heute sitzt schon jeder 7. Gefangene in einer kleinen oder normalen Verwahrung. Das sind schon über Eintausend, grossmehrheitlich Schweizer. Tendenz weiterhin stark steigend.
Das ist der Wandel, von dem die Rede ist: eine Abkehr vom Sühne- und Resozialisierungs-Strafsystem hin zum „Präventiv-Strafsystem“. Und damit eine schleichende Aufgabe von Werten wie Freiheit, Fairness, Verhältnismässigkeit. Früher seit Generationen hochgehalten und immer wieder als für unser Land beispielhaft gepriesen, als Grundrechte in der Verfassung verankert: auf einmal werden diese Werte für „mehr Sicherheit“ zu lasten von immer mehr Menschen missachtet. Die gleichzeitige Verhöhnung vollzugsbegleitender Präventions- und Resozialisierungsbemühungen als „Kuscheljustiz“ durch dieselben Kreise tragen indes wohl kaum zu mehr Sicherheit bei.
Noch dringt kaum an die Offentlichkeit, wieviele Menschen hierzulande inzwischen nicht mehr für eine begangene Tat Sühne leisten, sondern dafür, dass sie vielleicht in der Zukunft eine solche begehen könnten. Und auch über die oft erschreckend unsicheren, dürftigen Grundlagen, wie auch die zuweilen sehr fragwürdigen Rechtfertigungen für solche drastischen Massnahmen wissen die Wenigsten Bescheid. Die Mehrheit glaubt weiterhin blind Jenen, die vorgeben, künftiges Verhalten von Menschen auf Jahre und Jahrzehnte hinaus vorhersehen zu können – sicher genug, um deren Wegsperren u.U. bis zum Tod in Kauf zu nehmen. Und man geht immer noch davon aus, dass nur „extrem gefährliche HochrisikotäterInnen“ nach besonders brutalen Morden oder Vergewaltigungen verwahrt würden. Die Zahl jener, die in Haft alt und gebrechlich werden und dort schliesslich nach und nach sterben, steigt. Nur ein kleiner Teil darunter hätte in Freiheit vielleicht tatsächlich nicht bestanden. Immer mehr Menschen werden unnötig geopfert für einen Sicherheitswahn, der in Wahrheit kaum mehr Sicherheit, dafür aber immer mehr Unfreiheit für Alle bringt.
Wann wird die Gesellschaft diese Entwicklung zu hinterfragen beginnen? Das fragen sich immer mehr Betroffene und deren Angehörige. Wenn Grundrechte plötzlich nicht mehr für alle gelten – und soweit sind wir inzwischen – dann ist der Rechtsstaat ernsthaft gefährdet!
Zusätzliche Informationen zum NZZ-Artikel von Brigitte Hürlimann, vom 10.06.2017
„In der Strafanstalt altern Menschen schneller, und sie werden krank … „
(Dieser erste Satz im fettgedruckten Einschub am Anfang der online-Version des obigen Artikels gibt (auch) das wider, was der ehemalige JVA-Pöschwies-Direktor Graf, m.W. bei einem öffentlichen Auftritt anlässlich seiner Pensionierung Ende 2012 sagte.)
Der Artikel fasst die traurige Wahrheit dieses „Strafverfahrens“ und der darauf folgenden Justizgeschichte sehr eindrücklich und verständlich zusammen. Umfassender und ausführlicher wäre in diesem Rahmen nicht möglich gewesen.
So stellen sich vielleicht für jene, die nicht ohnehin ausreichend über die Hintergründe informiert sind, einige, im Artikel nicht geklärte, Fragen.
Auf ein paar wichtige solche möchte ich hier möglichst detailliert eintreten und -ich kann es nicht lassen – bei der Gelegenheit noch so einiges an zusätzlichen Informationen beifügen.
Aber auch hierin kann ich nicht über alle Hintergrunde aufklären; dafür bräuchte es ein Buch. Für weitere Fragen stehe ich indes gerne zur Verfügung.
(U. = jüngster-; K. = zweitjüngster-; M. = drittjüngster Stiefsohn)
A. Wieso dauerte es Zwölfeinhalb Jahre seit Beginn der Strafuntersuchungen, bzw. mehr als 10 Jahre seit meiner endgültigen Verhaftung bis zum letztlich rechtskräftigen Urteil? Erläuterungen:
I.Die Untersuchungshandlungen:
I.1. Mit Untersuchungshandlungen wurde im Herbst 1990 begonnen, unmittelbar nach Erscheinen einer BLICK-Story, worin ich durch eine in Deutschland lebende Drittperson H.L. schwer belastet wurde (siehe auch hier folgend I.2.,1 V.2-3., und unter B. I.2.-5.). Es handelte sich eindeutig um einen Racheakt, wie sich im laufe der Untersuchungen zeigte. Das wurde jedoch von der Untersuchungsrichterin völlig ausgeblendet.
I.2. In der Folge dauerten die „Untersuchungen“ an bis im Frühjahr 1997, als Anklage gegen mich erhoben wurde. Was geschah in der Zeit?
Zwischen dem 16.10.90 (Tag der Belastungen durch H.L. via BLICK) und dem frühen Morgen des 13.02.1993 erfolgten, in unregelmässigen Abständen, mehrere Befragungen und Verhöre der Stiefsöhne, deren Mutter, diverser weiterer uns nahestehender Personen und mir selber (jeweils in Haft) durch die Obwaldner und Aargauer Kantonspolizei und einmal durch die Jugendanwaltschaft Aarau. Dabei fielen mehrmals bewaffnete Polizisten mehrmals frühmorgens in die Wohnung ein und rissen auch schon mal die Kinder eigenhändig aus ihrem Schlaf. Auch wurde K. über mehrere Tage vom Schulpsychologen von Brugg AG eingehend untersucht. Zudem gab es Verhöre der Stiefsöhne durch die Kripo Dresden und letztlich Befragungen als Zeugen vor Gericht im Verfahren gegen den Deutschen H.L. zu dessen Anschuldigungen gegen mich.
Es waren für die Kinder zweifellos sehr traumatische Erlebnisse.
All dies endete stets mit für mich gänzlich entlastenden Ergebnissen.
II. Weshalb reiste ich zusammen mit K. ins Ausland?
II.1 Nachdem ich vom 21. 11. 91 bis zum 08, 01. 1992, trotz nach wie vor nur entlastenden Untersuchungsergebnissen, in völliger Isolation in U-Haft war (Entlassung wegen mangelndem Tatverdacht durch das damals neu entstandene Haftrichteramt), beschloss ich in Absprache mit der Familie, dass ich mich vorübergehend ins Ausland begebe. In der Schweiz sah ich bei den immer wiederkehrenden BLICK-Storys keine Chance auf einen gut bezahlten Job. Durch die schon über ein Jahr dauernden zusätzlichen schweren Belastungen hatten wir uns verschuldet und benötigten dringend Geld. Auch schien mir eine Trennung von der Familie einstweilen die beste Lösung, in der Hoffnung, die Kinder und deren Mutter kämen nach den mehrfachen traumatischen Polizeieinsätzen gegen uns dann eher zur Ruhe.
II.2. Da K. unbedingt bei mir bleiben wollte und auch angesichts der Empfehlungen des Schulpsychologen begleitete er mich mit Mutters Segen.
Notabene konnte K. bei mir die dann ca. 6 Monate dauernde Abwesenheit und Ruhe für schulische Nachhilfe nutzen. Er war schon seit vor meinem Kennenlernen in Dresden schulisch um zwei Jahre zurückgeblieben. Nach dem Umzug in die Schweiz musste er in die 2. Klasse. Im Frühjahr 1992, mit knapp 12 Jahren, wäre er in die 3. gekommen. Als er, nach intensiven Bemühungen mit mir, Ende der Sommerferien 1992 wieder bei seiner restlichen Familie zuhause in Linn AG das neue Schuljahr antrat, bestand er auf Anhieb die Aufnahmeprüfung für die 5. Klasse. Sein Rückstand war damit aufgeholt. Allerdings bekam er, nach meiner endgültigen Verhaftung, keine Hilfe mehr für seine Legasthenie – noch in Freiheit und an unserem ersten Wohnort Mellingen AG hatte ich eine professionelle solche fur ihn noch organisieren können.
III. Weitere Untersuchungshandlungen während meines Auslandaufenthaltes:
III.1. Während meines weiteren Auslandaufenthaltes wurden am 20. Oktober 1992 alle Beteiligten – nebst mir selber auch meine Frau und alle meine Stiefsöhne sowie weitere, im Verfahren gegen mich schon teils mehrmals befragten Personen – als Zeugen vor das Gericht in Ulm zitiert, wo die Verhandlung gegen H.L. stattfand. Wir hatten ihn wegen Verleumdung angezeigt und er war, mehrfach entsprechend vorbestraft, zudem selber wegen Straftaten im Zusammenhang mit sexueller Ausbeutung von Kindern/Kinderpornographie angeklagt.
Alle oben erwähnten Zeugen wurden vom Vorsitzenden Richter eingehend zu H L.’s Anschuldigungen gegen mich befragt. Alle blieben bei ihren bisherigen, in der Schweiz und in Dresden gemachten, mich völlig entlastenden Aussagen.
Die Zürcher Untersuchungsrichterin in meinem Verfahren hatte zwei Beamte nach Ulm an die Verhandlung geschickt. Es ist anzunehmen, dass diese ihr hinterher über den Verlauf der Verhandlung berichtet haben. Doch in den Untersuchungsakten meines Verfahrens findet sich nichts dazu und auch weder in der Anklage, mündlich vor Gericht, noch im begründeten Urteil wurde daruber etwas erwähnt.
Zudem hatte sie behauptet, ich sei auf der Flucht. Tatsächlich hatte sie mich, obwohl ich nach meiner Entlassung durch den Haftrichter keine Auflagen hatte, nach meiner Abreise in der Schweiz ausgeschrieben. Ich informierte über meine jeweilige Kontaktadresse, wäre also für sie jederzeit erreichbar gewesen. Auch meldete ich mich jeweils bei den ausländischen Schweizer Vertretungen an.
IV. Wie kam es nun dazu, dass meine Stiefsöhne und ich im Februar in Paris waren? Wie zu unserer Verhaftung dort?
IV.1. Anfangs Februar 1993 – ich lebte mittlerweile teils in Rotterdam, teils in Paris bei einer al ten Schweizerin und deren Mann – fragte mich meine Frau telefonsich, ob ich die Buben für die Sportferien zu mir nehmen könne. Sie wollte für die Zeit zur Erholung nochmals nach Dresden zu ihren Verwandten; die Buben würden sich darauf freuen, wieder mal Zeit mit mir verbringen zu können.
Ich sagte zu und holte die Buben in Brugg AG (wo Frau und Kinder inzwischen lebten) ab. Wir verbrachten dann einige Tage in Rotterdam. Anschliessend fuhren wir für das Wochenende vor dem Ende der Sportferien am Montag noch nach Paris, um unsere gemeinsame alte Schweizer Bekannte zu besuchen und mit den Buben auf den Eiffelturm zu gehen.
IV.2. Am Samstag frühmorgens (13.02.1993) wurden wir in Paris verhaftet. Wie sich herausstellte, hatte die Zürcher Untersuchungsrichterin direkt an die Pariser Polizei einen Fax geschrieben, in dem sie mich als eine Art ‚grossen Fisch im internationalen Kindersexhandel bezeichnet haben soll. So in etwa jedenfalls mein dortiger Pflichtverteidiger, der in das Papier Einblick, aber keine Kopie bekam. Dieses Dokument blieb daraufhin bis heute unerhältlich.
IV.3. Die Stiefsöhne U., K. und M. wurden in der Folge mehrmals polizeilich verhört. Fragen sind praktisch keine protokolliert, von der Unterschrift wurden sie dispensiert.
IV.4. U. soll angeblich schon anlässlich der gerichtsmedizinischen Untersuchung laut der begleitenden Polizistin Belastendes gegen mich ausgesagt haben. Bei den Verhören bei der Polizei tagsüber in den folgenden Tagen soll er noch mehr gesagt haben.
IV.5. K. und M. haben mich gemäss den Protokollen bei den dortigen polizeilichen Befragungen wiederholt nur entlastet, wobei K. am letzten Tag, am 17.02.93, nachdem sie die Mutter am Tag davor schon abholen wollte, sie jedoch erneut nachts getrennt im Heim bleiben mussten, mich in seiner letzten Einvernahme plötzlich angeblich schwer belastete.
Heute ist bekannt, dass nicht nur die Mutter tags davor durch die Polizei belogen wurde (es gebe „hieb- und stichfeste medizinische Beweise fur die Anschuldigungen gegen Ihren Mann“), sondern auch den Stiefsöhnen, – jeweils bezUglich der anderen beiden – dieselbe Unwahrheit aufgebunden wurde. Zudem sei ihnen gedroht worden, sie müssten in Frankrei eh bleiben und würden ihre Mutter nie mehr sehen. (Schon in der Schweiz, anlässliche eines polizeilichen Überfalls in Linn AG, hatten Polizisten in unser aller Anwesenheit, auch für die Kinder hörbar, der Mutter gedroht, man werde ihr die Kinder wegnehmen, wenn sie, meine Frau, mich weiter „decken“ wurde.)
IV.6. Unmittelbar nach K.’s letzter Einvernahme durfte die Mutter mit ihren Kindern in die Schweiz zurück nach Hause fahren.
V. Weshalb dauerte meine Pariser Haft derart lange?
V.1. Die Schweiz stellte ein Auslieferungsbegehren, welchem ich sogleich zustimmte. Trotzdem blieb ich in Paris bis zum Juni 1996 inhaftiert, bevor ich endlich an die Schweiz ausgeliefert wurde.
V.2. Es wurde dort zunächst untersucht, ob ich meine Stiefsöhne sexuell ausgebeutet habe und allenfalls noch ein weiteres Kind, das seinerzeit bei uns in der Schweiz zusammen mit seiner erwachsenen Schwester Ferien verbracht hatte. Der obgenannte Deutsche H.L. hatte auch an französische Medien und an die Pariser Polizei entsprechende Behauptungen gerichtet. Diese Verfahren wurden in Paris zwei Jahre später eingestellt, nachdem die Untersuchungen „die Belastungen durch die Drittperson nicht erhärten konnten“.
V.3. Verurteilt wurde ich allerdings schliesslich doch noch, zu einer Busse, welche später in 8 Monate Haft umgewandelt wurde. Dies weil ich eine Videokassette mit kinderpornographischen Aufnahmen dabei hatte.
Dabei handelte es sich allerdings um einen mich entlastenden Beweis gegen konkrete Anschuldigungen desselben Deutschen, wonach ich darin als erwachsener Akteur tätig sei. Das hatte er im November 1991 gegenüber der Polizei behauptet und auch gleich das Videoband dazu bereitgestellt. Schon da war aber schnell klar, dass es sich auf dem Band um völlig fremde Personen handelte.
Da mich die Zürcher Untersuchungsrichterin jedoch wider besseren Wissens dann doch genau wegen dieser Behauptung weiter in U-Haft behielt, liess ich eine Kopie des (sich im Besitz der Zürcher Behörden befindlichen) Originalbandes erstellen und führte es künftig immer in einem abgeschlossenen, klar mit „Vertrauliche Verteidigungsakten“ gekennzeichneten Aktenkoffer als Teil meines kompletten Verteidigungsdossiers im Auto mit mir. Ich wollte mich damit künftig vor solchen falschen Anschuldigungen des Deutschen schützen, Die totale Isolation in einem winzigen Kellerraum im Bezirksgefängnis Zürich über mehrere Wochen lösten schwere Magenblutungen bei mir aus, welche nach meiner Entlassung Spitalbehandlung erforderten.
Die Pariser Richter interessierten sich leider nicht fur meine Ausführungen, wiesen meinen Antrag auf entsprechende Abklärungen mit den Schweizer Behörden ab und verurteilten mich innert Minuten wegen „Nichtanzeigen eines einem Kind zugefügten Leides“ sowie wegen „Hehlerei eines aus einem Verbrechen stammenden Gegenstandes“ – die französische Weise des Kampfes gegen Kinderpornographie, da es damals noch kein Gesetz gab, welches solchen Besitz explizit verboten hätte.
V.4. Als nach der Einstellung des Pariser Hauptverfahrens immer noch viel Zeit verstrich, ohne dass sich etwas getan hätte, bat ich schliesslich den Schweizer Botschafter um eine diplomatische Intervention. Dieser erfragte beim Aussendepartement in Bern eine Zustimmung dafür, wurde aber an die Fallverantwortliche in Zürich, die erwähnte Untersuchungsrichterin, verwiesen. Diese verbot ausdrücklich jede Handlung, welche meine Auslieferung an die Schweiz beschleunigen sollte.
VI. Wie ging es dann in der Schweiz weiter?
VI. 1. Nach der endlichen Überstellung nach Zürich im Juni 1996 kam; ich erst einige Zeit in Polizeihaft, dann ins Bezirksgefängnis Affoltern am Albis ZH. Dort blieb ich bis im Juli 1998. In der Zeit wurden von den beiden Stiefsöhnen U. und K. deren angeblichen Pariser Aussagen nochmals abgefragt. U. sagte nun anders aus, während K. mehr oder weniger die in Paris angeblich von ihm selber stammenden Aussagen bestätigte. Auch ich wurde mehrmals befragt, wobei ich, wie auch bisher immer, alle Anschuldigungen bestritt. Auch wurde ich in der Zeit gerichtspsychiatrisch begutachtet.
VI.2. Auch in diese Zeit fiel, Herbst 1997, die Verurteilung beim Bezirksgericht Zürich mit der längeren Zeitstrafe. Zuerst ich, dann die Staatsanwaltschaft zogen das Urteil weiter.
VI.3. Nach meiner Überstellung in die Strafanstalt Pöschwies erfolgte im Dezember 1998 die Verurteilung vor dem Zurcher Obergericht mit einer kürzeren Zeitstrafe, aber dafür Verwahrung. Ich zog das Urteil weiter ans Kassationsgericht.
VI.4. Kurz vor der Obergerichtsverhandlung war mir von meinem damaligen Verteidiger übermittelt worden, dass der Staatsanwalt ein Geständnis von mir wünsche, andernfalls ich verwahrt wurde. Ich wäre, angesichts der schon verbüssten Haftzeit, kurz nach dem Urteil freigekommen. Doch ich konnte darauf nicht eingehen, vertraute damals zudem auch noch darauf, dass diese Drohung nicht tatsächlich umgesetzt werden würde. Bekanntlich wurde sie es.
VI.5. Direkt nach der Verhandlung suchte mich der Staatsanwalt im verschlossenen Warteraum auf, wo die freiwillige Sozialbetreuerin der Justizdirektion bis zu meinem Abtransport noch bei mir blieb. Er drohte mir ohne Umschweife wörtlich: „Wenn Sie nun wieder weiterziehen (Beschwerde ans Kassationsgericht), dann garantiere ich Ihnen dass Sie noch in 20 Jahren im Gefängnis sein werden!“ Auch diese Drohung wurde bis heute schon nahezu umgesetzt.
VII. Wie kam es zum Widerruf der Stiefsöhne?
VII.1. Im März 2000 informierte mich mein Anwalt über einen Anruf bei ihm meines Stiefsohnes K. , der ihm gesagt habe, er hätte mich damals falsch beschuldigt und wolle dies nun zurücknehmen. Der Anwalt habe ihm geraten, dies schriftlich ans Gericht zu tun. Bald darauf erhielt ich vom Anwalt die Kopie eines entsprechenden, von K. unterzeichneten, handgeschriebenen Fax.
Mir war sogleich klar: K. hatte gewartet – infolge seiner Abhängigkeit von der Mutter warten müssen – bis zu seiner Volljährigkeit (welche in der DDR erst mit 20 erfolgte, worauf sich die Mutter trotz hierzulande anderem Gesetz auch schon bezüglich ihrer deutlich älteren Söhnen berufen hatte). Erst dann konnte er von Zuhause ausziehen und fühlte sich damit endlich selbständig.
Seit Paris wollte meine Frau nichts mehr hören über mich und über ‚die ganze Sache‘, wie mir meine Stiefsöhne seither berichteten. Kein Brief von mir war beantwortet worden, kein Besuch von ihr erfolgte in all den Jahren. Daran hat sich bis heute nichts mehr geändert, und vor einigen Monaten reichte ich schliesslich die Scheidung ein. Ich hatte die Hoffnung, ‚meine‘ Familie doch noch zu ‚retten‘, endgültig aufgegeben.
Auch U. würde sich erst nach Erreichen seines 20. Altersjahres bei der Justiz mit einem Widerruf melden.
VII.2. Erst 2002 wurde K. schliesslich von der Untersuchungsrichterin, inzwischen zur Staatsanwältin befördert, einvernommen. Er schilderte eindrücklich, wie er damals in Paris und auch in der Schweiz unter Druck gesetzt worden sei durch Polizei und durch Untersuchungsbehörden.
VII I. Was verzögerte sonst noch das weitere Verfahren?
VIII.1. Im Sommer 2001 hatte das Kassationsgericht meinen damaligen Verteidiger entlassen und kurzerhand gleich einen neuen Pflichtverteidiger für mich eingesetzt.
IX. Zum zweiten und bisher letzten Obergerichtsurteil in derselben Strafsache:
IX.1. Im Juli 2003, mehr als Viereinhalb Jahre nach dem ersten Obergerichtsurteil, kam es vor dem gleichen Gericht erneut zur Verhandlung.
IX.2. Inzwischen hatte auch U. sich bei seinem Opferanwalt gemeldet, um seinerseits die damaligen Aussagen als falsch zu bezeichnen. Er sagte nun vor Gericht als Zeuge entsprechend aus und schilderte ebenfalls die traumatischen Umstände in Paris, welche ihn zu den Falschaussagen getrieben hätten. Der Staatsanwalt drohte ihm dabei unverhohlen mit einer Anzeige wegen „Begünstigung des Angeklagten“, was in diesem Falle jedoch nicht in die Tat umgesetzt wurde.
8. Wie kam es Uberhaupt zu diesen Anschuldigungen gegen mich? Präzisierungen:
I. Wurde ich, vor meiner Verhaftung in Paris, je von einem Stiefsohn oder von der Mutter oder von sonst jemandem aus dem Beziehungsumfeld sexueller Übergriffe beschuldigt?
I.1. Nein. Auch in meinem ganzen bisherigen Leben gab es nie dergleichen. Allerdings kam es im Sommer 1985 ein erstes und letztes Mal in meinem Leben zwischen mir und einem 14jährigen Freund aus England zu einvernehmlichen gegenseitigen sexuellen Zärtlichkeiten. Dafür wurde ich in England zwei Jahre später verurteilt (ein Jahr Gefängnis).
Dies hatte die englische Polizei aufgrund Verdachtsäusserungen per direktem Fax von den Zürcher Untersuchungsbehörden aus dem dann 16-Jährigen in England herausgepresst (wie er es mir selber später erzählte).
Der inzwischen knapp 45-Jährige IT-Spezialist bei einer grossen Firma in England bezeichnet mich heute noch als „besten Freund“. Er war schon damals schwul und lebt heute glücklich mit einem Mann im gemeinsamen Eigenheim. Wir pflegen lockeren Kontakt.
I.2. Die Strafuntersuchungen betreffend meiner Stiefsöhne wurden aufgrund der verleumderischen Medienkampagne durch den Deutschen H.L. im Oktober 1990 und Schreiben von ihm an diverse Schweizer Medien und Polizei- und Justizbehörden aufgenommen.
I.3. Bis 1996 oder 1997 behauptete er in vielen weiteren solchen Schreiben, aber auch bei Befragungen in einem eigenen Strafverfahren.
I.4. Im weiteren Verlauf kam es zu äusserst fragwürdiger Zusammenarbeit zwischen ihm und einem bekannten deutschen Kriminalkommissar aus Ulm.
Diesem lieferte er haarsträubende angebliche „Zeugnisse aus der Kindersexmafia in Deutschland und der Schweiz“, und behauptete gar u.a., ich hätte „vor laufender Kamera Knaben den Bauch aufgeschlitzt“. Mit solchen haarsträubenden angeblichen „Zeugnissen“ eines „Kenners der Szene“ kam darauf ein Buch heraus, das wie ein wissenschaftliches Werk daherkam („‚Grünkram‘ – die Kindersexmafia in Deutschland und der Schweiz“, Paulus/Gallwiz, Deutscher Polizeiverlag, 1996/97).
Zusammen mit diesem Kriminalkommissar trat er schliesslich auch in TV-Sendungen auf, verbreitete oft unterschiediche Behauptungen über mich und meine angeblichen monströsen Verbrechen.
I.5. H.L. hatte ursprünglich, wie ich kurz nach Veröffentlichung seiner Beschuldigungen aus dem Mund meiner damals noch Verlobten erfuhr, ihr anlässlich eines Besuchs bei ihr Monate zuvor in Dresden just solcher Art Geschäfte mit ihren Kindern angeboten, wie er sie mir via die Boulevardpresse später andichtete (Schlagzeile im BLICK am 16.10.1990: „Schweizer kauft DDR-Buben für Pornos“ – er wechselte in der Folge mehrmals den Kontext seiner Anschuldigungen). Er könne mit ihren Buben viel Gewinn durch Aufnahme von und Handel mit Kinderporno erzielen, denn er kenne in Deutschland und der Schweiz viele wohlhabende Männer, die dafür teures Geld bezahlen wurden. Er habe ihr angeboten, den Erlös mit ihr „Fifty-Fifty“ zu teilen.
Dass sie nicht zustimmte und ihm schliesslich „einen Korb“ erteilte, sich statt dessen für mich entschied, zu mir zog und mich heiraten wollte, sei der Grund, weshalb er sich nun mit solchen öffentlichen Beschuldigungen räche, laut meiner damaligen Verlobten.
Sie hatte mir leider von all dem zuvor kein Wort gesagt.
II. Was sagten, bis zu meiner endgültigen Verhaftung, die Stiefsöhne und die übrigen Familienangehörigen und Bezugspersonen über mich?
II.1. Seit meinem Kennenlernen der Familie und meinen späteren Stiefsöhnen bis zu den Befragungen in Paris (13.-17.02. 1993) hatte es nie irgendwelche Klagen, Beschwerden oder Belastungen über/gegen mich von Seiten der 5 Stiefsöhne (von denen zwei schon bei meinem Kennenlernen der Familie im April 1990 erwachsen waren) gegeben, ebensowenig von deren Mutter (meiner Ehefrau ab 7.12.1990) oder von sonst irgend einer uns nahestehenden Person, wie Verwandte der Stiefsöhne/Mutter, Lehrer/Lehrerin der Kinder, Schulpsychologe (spezielle Untersuchung von K., dem angeblichen Hauptgeschädigten, im November 1992), Nachbarn etc.
II.2. Die Stiefsöhne wurden insgesamt rund ein Dutzend Mal befragt oder verhört, erstmals noch am Tag des ersten Bekanntwerdens der öffentlichen Anschuldigungen durch den oben erwähnten Deutschen und letztmals am 17.02.1993 in Paris, wo U. und K. schliesslich erstmals angeblich belastende Aussagen machten (‚angeblich‘, weil sie als Erwachsene später erklärten, dass ihnen alles vorgesagt worden sei).
II.3. Die dann mich belastenden Befragungsprotokolle der Stiefsöhne U. und K. in Paris sowie die späteren, wenn auch teils unterschiedlichen Erneuerungen der Belastungen in der Schweiz sprachen von sexuellen Handlungen und Nötigungen während dreier Jahren. Liest man die Protokolle, so ist darin die Rede von „mehrmals die Woche“, „jeweils 1-3 Stunden Dauer“, und schliesslich von „Dresden“ („Dort erstmals Analverkehr mit K.“, damals 10jährig), in der Schweiz in Mellingen und Linn AG und Susch GR, in Libyen in Shebha und Tripoli, in Holland in Rotterdam, in Frankreich in Paris“, als jeweilige Tatorte. Also an sämtlichen in der Zeit von uns bewohnten oder auf Reisen mit den Stiefsöhnen besuchten Orten, insgesamt angeblich unzählige Male, jeweils stundenlang, über mehr oder weniger drei Jahre hinweg – vom ersten Tag des Kennenlernens der Familie in Dresden (30.04.1990) bis unmittelbar vor unserer Verhaftung in Paris (13.02. 1993),. „gnadenloser Analverkehr“ …
Solche Details sind wichtig zu wissen angesichts der gerichtsmedizinischen Untersuchungsergebnisse im Spital „Hôtel Dieu“ von Paris, welche bei K. und U., den bei den „Geschädigten“, keinerlei Anzeichen irgendwelcher sexueller Handlungen oder Übergriffe, schon gar keine Anzeichen von Analpenetrationen ergaben.
C. Laut Gesetz müssen Verwahrte (nach Art. 64 StGB) am Anfang nach spätestens 2 Jahren, danach jährlich „überprüft“ werden. Wie sieht die Realität aus?
I. Was passiert bei einer jährlichen Überprüfung (aus Sicht des Verwahrten)?
I.1. Normalerweise erhält der Verwahrte eines Tages eine normale Besuchsbewilligung, wie sie auch etwa bei Familienbesuchen ausgestellt wird. Darauf steht der Name des Fallverantwortlichen für den betreffenden Verwahrten und die Adresse des Zürcher Justizvollzugs. Der Name wechselt nicht selten und auch der Zeitpunkt viel zu unterschiedlich und daher völlig unvorhersehbar, sodass für den Verwahrten nicht unbedingt klar ist, um was es bei dem Besuch gehen wird.
I.2. Der Verwahrte wird dann im Besuchsraum vom Fallverantwortlichen begrüsst und gefragt, wie es ihm gehe. Die nächste Standardfrage – in meinem Falle war dies eine und auch andere Mitverwahrte bestätigen dies – lautet sinngemäss: „Hatten Sie seit der letzten Überprüfung irgendwelche Therapien oder Kurse absolviert?“ Dies muss wohl in den meisten Fällen verneint werden, da Verwahrten in der Regel gar keine Therapie angeboten wird. Es gibt Ausnahmen; Gefangene, die sich einen guten Anwalt leisten, bzw. einen solchen überhaupt engagieren können. Und in letzter Zeit hört man etwas häufiger von Verwahrten, welche doch in ein Programm des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes der Justiz (PPD) aufgenommen oder zumindest für eine Therapieabklärung zugelassen werden. Doch die grosse Mehrheit dürfte noch immer ohne jegliche Perspektive sein.
Viel länger als 15 Minuten dauert das Gespräch jedenfalls nicht, Zeit für Handnotizen des Fallverantwortlichen mit einbezogen. Falls überhaupt weiter nachgefragt wird; nach meinen eigenen und von Dritten gewonnenen Erfahrungen lautet der ‚Bericht‘ daraufhin in aller Regel, ohne weitere ‚Überprüfungen „, lapidar so oder ähnlich: „keine Veränderungen, es wird die Weiterführung der Verwahrung empfohlen.“ Und postwendend amtlich verfügt.
I.3. Gute Verteidiger gibt es viele, Vollzugsspezialisten darunter deutlich weniger. Noch weniger sind solche, welche auch dann bereit sind zu helfen, wenn ein Verwahrter kein Geld für Vorschüsse hat (die ein Anwalt (für Aktenvorstudium, ersten Besuch etc.) braucht, solange eine unentgeltliche Rechtspflege nicht feststeht und gewährt wurde).
Aber es gibt sie, diese human denkenden und handelnden Anwälte, welche angesichts von Verzweiflung bei einem um Hilfe bittenden Langzeitgefangenen ein finanzielles Risiko in Kauf nehmen, trotz teurer Kanzlei-Infrastruktur und -Personalkosten.
Wenige Betroffene haben das Glück, einen solchen Anwalt an ihrer Seite zu haben, denn sie sind natürlich seit der zunehmenden Verschärfung im Straf- und Massnahmerecht weitestgehend ausge- wenn nicht gar überlastet.
Und selbst diese meist besonders hoch qualifizierten und entsprechend hoch angesehenen Anwälte können keinen Erfolg versprechen, auch dann nicht, wenn die Umstände, die Argumente, die Frage nach dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz aus Sicht eines jeden vernünftig denkenden Menschen alles scheinbar günstiger kaum sein könnte. Der durch populistische Hetze und oft irrationale Angstmache über die vergangenen gut zwei Jahrzehnte entstandene öffentliche Druck ist heutzutage meist stärker als Menschlichkeit und Vernunft.
Ich habe selber miterlebt, wie ein bestdotierter Anwalt durch die Fachkommission (welche bei Verwahrten jegliche Anträge der Vollzugsbehörden auf Entlassung oder auch nur Haftlockerungen prüfen muss) nichts erreichte; nicht einmal sichere begleitete Ausgänge wurden bewilligt. Dies nach einem äusserst günstig lautenden psychiatrischen Gutachten (keine Persönlichkeitsstörungen festgestellt, Entlassungsempfehlung) und sehr gutem Führungszeugnis. Selbst die brillanteste und sorgfältigste Verteidigereingabe wird bei Verwahrten oft so gut wie völlig ignoriert und kalt abserviert.
I.4. Eine solche Uberprüfung, bei welcher durch den Justizvollzugsdienst nach einer wie unter I.1.-2. die simple Weiterführung der Verwahrung verfügt wurde, kann von einem Anwalt angefochten werden mittels einem Rekurs an die Justizdirektion.
Ist es schon einige Jahre her seit dem letzten psychiatrischen Gutachten, so kann versucht werden, ein neues Gutachten zu erkämpfen. Hat man Erfolg, kann es leicht ein Jahr oder länger dauern, bis dieses vorliegt. Dass ein solches Gutachten, besonders wenn frühere schon eine schlechte Prognose stellten, besser ausfällt, ist sehr selten. In meinem hiervor beschriebenen Fall hatte ich das Glück, dass der Gutachter, der kurz vor seiner Pensionierung stehende damalige Chef der Psychiatrischen Universitätsklinik war, der sich unbeirrte Eigenständigkeit bei seiner Beurteilung leisten konnte, da er nicht mehr um seine Karriere oder Pension fürchten musste.
Werden, wie in den allermeisten Fällen, die Anträge etc. der Verteidigung auf Haftlockerungen nach Vorlage des Gutachtens vom Amt für Justizvollzug erneut abgewiesen, so kann dagegen bei der Justizdirektion Rekurs eingelegt werden.
Diese wird fast immer den Entscheid der Vollzugsabteilung stutzen. Da es sich bei der. Justizbehörde um eine Verwaltung handelt, kann daraufhin mit einer Beschwerde ans kantonale Verwaltungsgericht gelangt werden. Dort hat man zwar etwas eher Chancen auf Erfolg als bei der Vorinstanz, aber ein solcher bleibt bei Verwahrungspüberprüfungen auch da immer noch die Ausnahme.
Dann bleibt noch eine staatsrechtliche Beschwerde ans Bundesgericht in Lausanne. Erst in den letzten etwa drei bis vier Jahren kam es in einigen Einzel fällen zu einer Gutheissung der Beschwerde mit einem letztlich guten Ausgang für den Betroffenen. Ansonsten verliert man oder erreicht höchstens einen Teilsieg wegen irgendwelchen formalen Fehler, wobei die Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung zurückgewiesen wird.
Dies endet dann meist dennoch mit einer Niederlage und der Verwahrte bleibt drin. Verwahrte gelten schon per Definition im Verwahrungsartikel als „nicht therapierbar“.
I.5. Diese ganze Kette von Instanzenwegen plus jeweils immer auch noch langwierige Schriftwechsel mit Repliken und Dupliken von beiden Seiten, kann leicht bis zu drei Jahren oder gar noch länger dauern. In dieser Zeit finden keine „jährliche Überprüfungen‘ statt, sie werden suspendiert. Ich selber hatte in den 14 Jahren seit 2003 mit dem rechtskräftigen Urteil nur etwa dreimal eine dieser ‚Pseudoüberprüfungen‘ wie oben unter I.1.-2. beschrieben. „Echte“ Überprüfungen gab es meiner Erinnerung nach drei- oder viermal und diese dauerten alle sehr lange.
I.6. Von in letzter Zeit schon einigen wenigen Ausnahmen abgesehen (wie oben erwähnt) kriegt Einer im günstigsten Falle dank einer solchen, von einem Anwalt unterstützten Überprüfung vielleicht doch einmal ein Therapieangebot gewährt oder wenigstens die Anordnung an den PPD, seine Therapierbarkeit (neu) abzuklären. Das führt, vielleicht, mit viel Glück, nach einer gewissen Zeitspanne zu einer Umwandlung seiner Verwahrung in eine „kleine“ solche nach Art. 59 StGB (bei nicht-Geständigen ausgeschlossen).
Dann allerdings fängt erst mal eine 5-Jahresperiode an zu laufen, nach deren Ende erst geprüft wird, ob die Therapie bislang erfolgreich verlief. Je nach Berichten oder neuem Gutachten können dann langsam Lockerungsschritte geplant werden oder gar eine bedingte Entlassung in Betracht gezogen werden. Meist jedoch wird die Massnahme um weitere 5 Jahre verlängert. Das kann beim 59er unbegrenzt oft geschehen; mit mindestens einer Verlängerung müssen, so scheint es, jedoch die Allermeisten rechnen.
Nicht so selten wird Einer aber aus einer 59er-Massnahme auch (wieder) in die „ordentliche“ Verwahrung (zurück-)versetzt.
Therapeuten beim PPD wechseln häufig; nicht selten scheint einer ‚zu günstige‘ Berichte zu schreiben über seinen Therapanden. Dann übernimmt schon mal ein ‚Hardliner‘ die weitere „Therapie“ … Auch da braucht einer viel Glück, wenn er weiter kommen will – bestmögliches Mitmachen und Kooperieren, gutes Verhalten; all dies muss nicht erfolgversprechend sein; es droht dennoch ständig die Gefahr von Rückschlägen, etwa weil ein neuer Therapeut oder Psychologe dem Insassen nicht wohlgesinnt ist, weil in den Zeitungen wieder mal von einem Rückfälligen irgendwo im Lande die Rede ist oder ganz einfach, weil die Methode beim PPD vielmehr auf ‚Gehirnwäsche‘ und zuweilen scheinbar fast schon eher auf Unterdrückung der Persönlichkeit eines Gefangenen, als auf Heilung jener seelischen Leiden abzielt, welche vielleicht die ursprünglichen Straftaten begünstigt hatten.
Beat Meier
JVA Pöschwies
Roosstrasse 49
CH-8105 Regensdorf
Regensdorf, 14.-18. Juni 2017
(TA vom 19. August 2013; Der Mann der sich zu Tode hungerte, und TA vom 20. August 2013; „Man muss den Tod in Kauf nehmen“)
Nach einer 2011/2012 durchgeführten Umfrage unter 37 Sicherheitsverwahrten (Art.54 StGb) und Massnahmegefangenen (Art.59 StGb) gaben knapp 70% der Probanden die Ungewissheit als schlimmstes Leiden in ihrem Haftalltag an. Durchschnittlich wurde dabei die Schwere des Leidens auf einer Skala von 0 (kein Leiden) bis 5 (sehr starkes Leiden) mit 4,6 Punkten angegeben. Gefolgt von Einsamkeit (3,8), Hoffnungslosigkeit (3,5), Willkür (3,4), ungerechte Behandlung (3,3), und Angst.
Gut jeder Fünfte gab an, unter Depressionen zu leiden und knapp jeder Zehnte hatte Suizidgedanken.
9 von 10 Probanden glauben, dass ihr Verwahrungs-/Massnahmeurteil
und/oder das diesem zugrundeliegende Gutachten durch die aktuelle Politik und die Medienberichterstattung beeinflusst wurde.
Ich möchte die Frage aufwerfen, ob Frau Baumann-Hölzle bei Kenntnis dieser Umfrageergebnisse auf gewisse Fragen in ihrem Interview nicht vielleicht entscheidend anders geantwortet hätte?
So oder so erstaunt mich, dass bei Haft ohne echte Entlassungsperspektiven überhaupt die Frage von „angemessenen Haftbedingungen“ herangezogen wird. Auch ein goldener Käfig ist ein Käfig ist ein Käfig ist ein Käfig… Inhaftierung ohne echte Entlassungsperspektive, also dauerhafte Ungewissheit in Haft, ist psychische Folter. Die erschütternde Geschichte des 32jährigen Gefangenen von Zug legt davon einmal mehr trauriges Zeugnis ab.
Immer wieder höre und lese ich ähnliche Äusserungen wie diese in einem Kommentar eines Verwahrten: „Legt mich meinetwegen in Ketten bei Wasser und Brot, aber nennt mir wenigstens ein Entlassungsdatum.“
Für viele Verwahrte klingt es zynisch, wenn bei einem Entscheid über Leben und Tod vor allem über „den Respekt des freien Willens des Gefangenen“ diskutiert wird. In welchen anderen Bereichen im Haftalltag wird denn sonst überhaupt noch der freie Wille eines Verwahrten ernst genommen?
B.M.; www.fair-wahrt.ch die Interessengemeinschaft für Sicherheitsverwahrte