Rundbrief 16

December 26, 2020

WICHTIGES RUNDSCHREIBEN DER IG «FAIR-WAHRT?»
GIBT ES EINE ZUKUNFT FÜR UNS?

Liebe Mitglieder des Fördervereins für die IG «Fair-wahrt?»,
Liebe Gönnerinnen und Gönner,
Liebe Freunde und UnterstützerInnen,
Sehr geehrte Damen und Herren

Die Adventswochen, die anstehenden Feiertage ermahnen uns, dass das Jahr 2020 und damit auch das aktuelle Vereinsjahr bald Vergangenheit sein wird. Und das könnte schon der Übergang sein zum zweiten Thema dieses Rundbriefes. Doch zuvor das Erste und das ist natürlich zunächst, Allen frohe Festtage zu wünschen und ein für Euch Alle (und natürlich auch für meine Wenigkeit) in jeder Hinsicht glückliche(er)es neues Jahr 2021 innig zu erhoffen. Wir wissen indes nur zu gut, wie einschneidend für wohl die Meisten unter Euch, ganz besonders euch Verwahrten, die Pandemie-Massnahmen waren und sind. Wir hoffen, dass es bald vorbei sein wird und wenigstens Besuche wieder möglich werden.

Das zweite Thema ist nicht nur für mich und gewiss für Viele unter uns unerfreulich, es ist im Grunde eine Tragödie — ein Armutszeugnis für unser Justizsystem:

Nach dem heutigen Stand der Dinge und dem bisherigen Resultat unserer sorgfältigen Erwägungen wird nicht nur das Vereinsjahr 2020, sondern wohl sehr bald die IG «Fair-wahrt?» (folgend: ‚\G-Fw’) und damit voraussichtlich auch deren Förderverein Geschichte werden. Dies aus einer Reihe von Gründen:

Weshalb eine Weiterführung der IG-Fw nicht nur Zeit- und Kraftverschwendung wäre, sondem den Mächtigen weiter gelegen käme

1. FEIGENBLATT FÜR MACHT – AUF UNSERE KOSTEN

1. Wir sollten schon immer bloss Feigenblatt sein

Wir haben trotz aller unserer Anstrengungen, trotz unzähligen‚ Apellen, Vorstössen und Argumenten, direkt oder über diverse Medien bei Behörden, Justiz, Wissenschaft und Politik in zehn Jahren, offen gesagt, so gut wie nichts bewirken können. Nicht einmal eines der bescheidenen unter unseren Zielen wurde erhört, geschweige denn auch nur im Ansatz erreicht. Vielmehr haben kaum übersehbare Anzeichen langsam aber sicher einen längst gehegten Verdacht zur letztendlichen Überzeugung gebracht: unsere IG-Fw und ihr Förderverein dient beiden zuständigen behördlichen und politischen Verantwortlichen im Grunde lediglich als ein ‚Feigenblatt‘ zur Bedeckung ihrer Tatenlosigkeit. Das aber wollen wir nicht mehr sein.

2. Lebenslang für ‘gewöhnlich’ Verwahrte

Wenn in rund zehn Jahren nicht einmal die Bereitschaft entstand, wenigstens die auch für die Schweiz verbindlichen Europäischen Menschenrechte (auch) für Menschen in faktisch unbegrenzter Verwahrung umzusetzen, dann wird man dies auch weiterhin nicht tun wollen. Seit die vom Volk angenommene «Lebenslange Verwahrung extrem gefährlicher Straftäter» (Art. 64’ StGB, in Kraft seit 1. Aug. 2008) wegen menschen-rechtlichen Bedenken nicht angewendet werden kann, sollen nun ’stillschweigend‘ praktisch alle Menschen in ‘gewöhnlicher‘ Verwahrung (Art. 64′ StGB, in Kraft seit 1. Jan. 2007) bis an ihr Lebensende hinter Gittern verkümmern. Und dies in den meisten Fällen unter einem Strafhaftregime, auch noch Jahre und Jahrzehnte nachdem eine Grundstrafe längst verbüsst wurde!

3. Rechtswidrige ‚Neuauslegung’ von Art. 64‘ StGB

Das nennt sich Missachtung der verbindlichen Menschenrechte und des Volkswillens. Und es ist eine willkürliche und durch keinerjei Rechtsgrundlage gestützte Anderung der Praxis bei Verwahrungen mit äusserst weitreichenden Folgen für alle Betroffenen.

4. Rund 8 von 10 Gefährlichkeitsprognosen falsch

Dabei brachten schon vor Jahren diverse Langzeitstudien zutage, dass zwischen 75% und 90% der forensischen Gefährlichkeitsprognosen in gerichtlich angeordneten psychiatrischen Gutachten sogenannte «false-positives» sind, sich also rund acht von zehn Prognosen einer erhöhten Gefährlichkeit als falsch herausstellten (siehe u.a. unser Bulletin 7 v. Mai/Juni 2013, unser Rundschreiben vom 17.09.2017; Rechtsanwalt Mathias Brunner im «plädoyer» Magazin für Recht und Ordnung» 1/2013; oder unser Schreiben an Bun.desrätin Simonetta Sommaruga vom 1. Mai 2012. Gestützt u.a. auch auf Dr. Mario Gmür auf „TimeToDo“, Freitag 27.04.2012 auf SF5, und ZDF-ZOOM vom Donnerstag, 03.05.2012 auf ZDF).

Mit anderen Worten: die Verantwortlichen von Politik und Justiz nehmen wissentlich in Kauf, dass rund 8 von 10 Menschen in der Verwahrung nicht nur mangels Gefährlichkeit da nicht hingehörten, sondem sogar möglichst nie mehr freikommen sollten.

II. RESIGNATION BEI VERWAHRTEN?

1. Nötigungstaktik seitens Teilen des JVA-Personals

Auch kann an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass die Moral, bzw. das Interesse und die Unterstützung vieler Mitglieder, bzw. Teilnehmer der IG-Fw von Jahr zu Jahr nachliess. Das darf nicht verwundern, wenn man weiss, dass vielen Gefangenen, gerade auch von Seiten gewisser Aufseher oder anderen ‚Autoritätspersonen der Anstalt von einer Mitgliedschaft bei uns aktiv ‘abgeraten’ wurde. Gemäss öfters gehörten Auskünften dem Schreiber gegenüber geschah solches auf, gelinde gesagt, höchst fragwürdige Weise: Der Schreiber selber kann bezeugen, dass beispielsweise mehreren Mitgefangenen auf seiner Abteilung (damals ASP, Pöschwies), die sich als Teilnehmer einschreiben liessen, dann wieder austraten und dies damit begründeten, sie wären dazu durch den Leiter der Gruppenaufsicht mit dem Verlust bisher erlangter Privilegien genötigt worden.

2. Dämonisierungstaktik der Rechtspopulisten

Seit den Neunzigerjahren erstarkte zunehmend der Rechtspopulismus auch in der Schweiz. Durch säen von Angst und Hass in der Gesellschaft erstrebten sich rechts-aussen Parteien mehr Macht und Einfluss. Durch Besetzung von Schlüsselpositionen in der Justiz durch Gleichgesinnte und dank Verbandelung mit den Sensationsmedien festigte man im Volk die Gewissheit:

a) Ihr werdet von ‘extrem gefährlichen’ Tätern im Land an Leib und Leben bedroht.
b) Diese müsse man über die Strafe hinaus präventiv wegsperren.
c) Es gäbe schweizweit zwar nur eine ganz kleine Gruppe von «vielleicht 20 bis 25» solcher‘ extrem gefährlicher Täter*.
d) Die aber verdienten denn auch Härte statt ‘Kuscheljustiz‘.
e) Nur damit könne absolute Sicherheit gewährt werden.

(‘Kaum bemerkt vom Volk:
1. Unter den Verwahrungsartikeln 59 und 64 StGB vegetieren hierzulande heute um die 1000 präventiv Verwahrte, in Gefängnissen dahin (etwa jeder siebte Gefangene!), nicht wenige schon seit Jahrzehnten und es werden immer mehr.
2. Jeder und jede Verurteilte für eine mit einer Höchststrafe von 5 Jahren oder mehr bedrohte Straftat riskiert ev. Verwahrung, auch wenn das Strafmass weitaus tiefer oder sogar nur bedingt ausfiel, z.B. weil die Straftat relativ geringfügig war. Denn immer mehr Staatsanwälte erwirken dank der geschürten öffentlichen‚ Angst auch via die allzu geme dramatisierenden Sensationsmedien selbst bei solchen Urteilen fragwürdige Gefährichkeitsgutachten, an welche sich ‚dann die RichterInnen gebunden fühlen – siehe hiervor unter 1. 4.!).

3. Entmutigungstaktik gegen eine zu starke IG-Fw.

Leider liessen sich auf der anderen Seite viele Verwahrte durch solche öffentliche, pauschalisierende Dämonisierung nur zu leicht entmutigen. Sie werden depressiv, bekommen dagegen Psychopharmaka verschrieben, die ihnen häufig sogar gegen ihren Willen aufgezwungen werden. Solches belastet nicht nur die Gesundheit solcher Menschen, sondern wirkt sich auch negativ etwa auf soziale Kompetenz und Empathie aus und fördert die Vereinsamung und Resignation. Hinzu kamen über die Jahre immer wieder diffamierende Berichte in der Sensationspresse gegen den Gründer der IG-Fw, die irreführen und abschrecken sollen.

II. DIE FINANZEN

1. defacto Freiwilligkeit bei Jahresbeiträgen

Es gehörte von Anfang an zu unserer Philosophie, MitgliederJahresbeiträge insbesondere für Betroffene Mitglieder nicht nur möglichst klein zu halten (für Letztere Fr.25/Jahr), sondern sie de facto als freiwillige Zahlungen zu behandeln. So haben wir explizit darauf verzichtet, für Rückstände Mahnungen zu versenden und haben zum Vorneherein auch jegliche Form der Eintreibung gänzlich ausgeschlossen.

2. Abwärtstrend, fehlende Mittel

Anfangs ging diese Taktik mehrheitlich auf, nicht wenige zahlten gönnerhaft mehr ein als vorgegeben. Das hiervor bisher ‚Aufgezeigte hat indes über die Jahre die Zahlungsmotivation zunehmend verringert. Unsere finanzielle Situation ist in den letzten Jahren entsprechend karger geworden. Kaum mehr Mitglieder-Jahresbeiträge trafen und treffen ein.

Dies hier zu vermerken, soll allerdings nicht unser aller Dankbarkeit für das Vertrauen einzelner Mitglieder schmälern, die sich nicht entmutigen liessen und dennoch hin und wieder grosszügige Beträge überwiesen! Herzlichen Dank!

IV. BEVORSTEHENDE VAKANZ IN DER LEITUNG
Vorwiegend persönliche Gründe – keine Nachfolge in Sicht

Der Schreiber, Initiant und Mitgründer der IG-Fw kann alleine schon aus persönlichen Gründen seine Führungsaufgabe nicht länger wahrnehmen. Er wird, solange ihm Zeit bleibt, allerdings nicht in Tatenlosigkeit verfallen. Sollte sich im letzten Moment doch noch ein Nachfolger oder eine würdige Übernahmeorganisation finden, so wäre er auf Anfrage gerne bereit, aus dem Hintergrund nach seinen begrenzten Möglichkeiten beratend mitzuwirken. Auch wird er weiterhin für einzelne Hilfesuchende da sein. Hauptsächlich will er sich jedoch künftig mit persönlicher Öffentlichkeitsarbeit befassen (z.B. Herausgabe von Büchern zum Thema). Leider blieb auch unsere in letzter Zeit intensivierte Suche nach neuer Besetzung der IG-Fw-Leitung bislang ohne Erfolg. Gleiches gilt für unsere Suche nach möglichen integren, geeigneten und sachkundigen “Erben’ der IG-Fw und deren Fördervereins (siehe dazu aber weiter unten!). Wer aber dafür geeignete Personen oder Institutionen kennt, der melde sich bei uns – jetzt!

Letztlich führte die Corona-Pandemie, und die damit einhergehenden Einschränkungen, speziell was Besuchssperren in Strafanstalten über den Grossteil dieses Jahres betrifft, zu einer Verunmöglichung seit dem Frühjahr von Vorstandssitzungen. Schon die diesjährige Hauptversammlung mussten wir absagen (s. Rundbrief an die Aktivmitglieder vom vergangenen Frühjahr).

Die neueste, uns vor wenigen Tagen von Herrn lic iur. David Mühlemann angebotene Möglichkeit sähe vor, dass seine Nichtregierungs-Organisation «humanrights.ch» in Bern (siehe unsere mehrfachen Mitteilungen zu der von ihm aufgebauten Gratis-Telefon-Rechtsberatung für Gefangene) eine Hinterlegung bei humanrights.ch der Adressen unserer Mitglieder, IG-Fw-TeilnehmerInnen, GönnerInnen sowie weiterer UnterstützerInnen. Da würden sie gesichert verbleiben für den Fall, dass sich doch noch eine Möglichkeit der Weiterführung bzw. Übergabe von Verein und IG-Fw an eine geeignete Institution ergäbe.

Der Vorstand wird dies sicherlich in Betracht ziehen.

Dazu schon hier vorsorglich der Aufruf an Alle, die ihre Adresse nicht bei humanrights.ch hinterlegt haben wollen, sollen uns dies an die Adresse unseres Vereins mitteilen:

Förderverein für die IG «Fair-wahrt?», Badstrasse 12, CH-8634 Hombrechtikon;
eMail: info@verwahrung.ch

Der endgültige Beschluss über eine Auflösung der IG-Fw und deren Fördervereins steht noch aus. Wir werden wieder Mitteilung machen, sobald ein formeller statutengemässer Beschluss feststeht. 

Abschliessend noch mein Appell an jeden einzelnen Verwahrten (nach welchem Artikel auch immer): Gib nie die Hoffnung auf. Sie hilft dir zumindest, deine geistige, seelische und körperliche Gesundheit auf bestmöglichem Niveau mindestens zu erhalten, wenn nicht gar zu stärken («was mich nicht bricht das stärkt mich»). Es funktioniert bei mir, seit bald drei Jahrzehnten schon!

Nochmals frohe Festtage allerseits und die besten Wünsche fürs neue Jahr!

Die IG-Fw-Leitung