Rundbrief 15

October 1, 2019

Rundbrief 

Liebe Mitglieder, liebe Gönnerinnen und Gönner, liebe Freunde, sehr geehrte Damen und Herren

Dieser Rundbrief ist ganz besonders an all Jene unter Euch gerichtet, welchen eine geschlossene Massnahme nach Artikel 59 oder 64 StGB droht, und natürlich auch an Alle, die sich (z.T. schon seit vielen Jahren) in einer solchen Massnahme befinden. Für Sie und für Ihre Angehörigen und/oder vertrauten Bezugspersonen könnte das beiliegende Papier über psychiatrische Gutachten von Interesse sein. 

Menschenrechte:

Wir sind kürzlich auf obige, vom Bund beauftragte, 2016 veröffentlichte Forschungsarbeit der Universität Bern gestossen und konnten sie vom Internet herunterladen. Inzwischen haben wir den ca. 80-seitigen Bericht sorgfältig analysiert. Um dessen Feststellungen und kritischen Aussagen möglichst prägnant zu vermitteln, haben wir nun eine Abschrift aller uns als besonders wesentlich erscheinenden Zitate daraus erstellt. Diese umfasst 28 Schreibmaschinenseiten und enthält auch einige persönliche Anmerkungen aus Sicht des Schreibers sowie dessen Schlussbemerkungen dazu. 

Wir können und möchten diese Zitatensammlung nicht ungefragt versenden, sondern bieten sie – auf Verlangen – jenen Empfängern dieses Rundschreibens an, die keinen Internet-Zugang haben. 
Schreiben Sie kurz an unsere Adresse (Briefkopf) und bestellen Sie kostenlos unsere SAMMLUNG WICHTIGER ZITATE* aus der erwähnten Forschungsarbeit. Man ist bestürzt über die Unnachgiebigkeit der Schweiz in Sachen Menschenrechte für Verwahrte – trotz Mitunterzeichnung der entsprechenden Institutionen mit deren international verbindlichen Rechten, Pflichten und Empfehlungen. 

Dies ist wohl eine der ergiebigsten ,Fundgruben‘ für Argumente im Kampf für die Einhaltung der Menschenrechte und einer menschenwürdigen und nicht erniedrigenden Behandlung. 

*Hier der Link zur Forschungsarbeit: skmr.ch/cms/upload/pdf/160615 Studie Verwahrung.pdf 

Falls Sie nebst der Zitate-Sammlung auch die zugrundeliegende Forschungsarbeit möchten und keine Möglichkeit haben, sie herunter zu laden, bzw. niemanden kennen, der dies für Sie kann: bestellen Sie bei uns ausdrücklich auch diese. 

Allen wünschen wir weiterhin das Beste, viel Kraft und guten Mut! Eure IG „Fair-wahrt?“ 

Psychiatrische Gerichts- oder Privatgutachten –
was müssen sie, und was dürfen sie (nicht)? 

Einige Gedanken dazu … 

Unschuldsvermutung vor rechtskräftigem Urteil 

Für Gutachter/innen, welche sich vor einem rechtskräftigen Urteil über einen Angeklagten äussern müssen, also für vorgerichtliche Gutachter/innen, gilt die Unschuldsvermutung ohne Wenn und Aber. Damit scheinen indes manche unterschwellig locker umzugehen. Diesen Eindruck gewinnt man, wenn man schon oft solche Gutachten zu lesen bekam. 

Unschuldsvermutung bezüglich nicht abgeurteilter Anschuldigungen 

Besonders problematisch dürfte auch der fragwürdige Umgang von Gerichtsgutachter/innen (ob vorgerichtlich oder auch während des Vollzugs nach rechtskräftiger Verurteilung beauftragte) mit einem Probanden belastenden, unbewiesenen Behauptungen über angebliche weitere oder frühere ,,einschlägige Straftaten“ sein. Es scheint fast schon zum Standardvorgehen zu gehören, solche in irgend einer Form als zusätzlich belastende Grundlagen in gerichtspsychiatrische Erwägungen einzubeziehen, sei dies aus eigener Beeinflussung daraus, aus Mangel an Sorgfalt oder gar unter dem Druck von Staatsanwält/innen und Politik nach härteren, längeren Strafen und nach Verwahrung. 
Sind solche weiteren oder früheren angeblichen ,,Straftaten“ weder Bestandteil der aktuellen Anklage, noch führten sie je zu einer Verurteilung, dann gilt für solche weiterhin klar das Gebot der Unschuldsvermutung. Erst recht dann, wenn solche Behauptungen zwar von behördlicher Seite lang und breit untersucht und mangels Erhärtung danach gleich, oder letztlich erst ,,wegen Verjährung“ eingestellt wurden. 

Wenn das Urteil rechtskräftig ist – Ausgangslage für die Begutachtung: 

Kein/e Gerichtsgutachter/in kann und darf nach einem rechtskräftig gewordenen Urteil von etwas anderem ausgehen als was darin steht. Mit anderen Worten ist er/sie nicht befugt, in seinem/ihrem Gutachten die Richtigkeit eines Urteils anzuzweifeln. Entsprechend wird in Gerichtsgutachten grundsätzlich davon ausgegangen, dass der Schuldspruch letztlich auf Tatsachen beruhe. Es ist klar, dass dann ein Gutachten ziemlich sicher wesentlich belastender ausfällt als es dies theoretisch im Falle eines Freispruchs würde. 

Zu Unrecht verurteilt; nicht, oder nur teilweise geständig: 

Gerichtsurteile sind nicht ,Gottes Wort‘. Fehlurteile, Gerichtsirrtümer; sie kommen vor. Ja, natürlich auch in der Schweiz. Vielleicht öfter als man glauben möchte. Viele sehen diese Gefahr da besonders gross, wo die Anklage Sexualdelikte betreffen (nicht erst heutzutage aber vielleicht in den letzten etwa 20 bis 30 Jahren zunehmend). Niemand kann auf die leichte Schulter nehmen, wenn er oder sie zu Unrecht verurteilt wurde oder wenn die Dinge in Wahrheit viel weniger dramatisch und weniger schuldhaft waren, als es Bezirks- und/oder Staatsanwaltschaft darlegen und das Gericht es dann beurteilt. Man gibt schon aus Prinzip nicht etwas zu, das man in Wahrheit nicht getan hat. 
Hier kann ein Gerichtsgutachten sich fatal auswirken: Wer nicht gesteht, gilt als uneinsichtig, wer nicht einsichtig ist, gilt womöglich als nicht therapierbar. Besonders im Kanton Zürich, wo der PPD (Psychiatrisch-Psychologischer Dienst) wohl am striktesten nur jenen zu einer Massnahme Verurteilten eine Therapie anbietet, welche geständig sind, birgt ein Beharren der verurteilten Person auf ihrer Unschuld die äusserst ernsthafte Gefahr einer Verwahrung nach Art. 64 StGB. Wegen ,,Untherapierbarkeit“. Und damit ein Verbleiben in Haft und dies sehr wahrscheinlich permanent in einer Strafanstalt, egal wie hoch oder niedrig die ausgesprochene Zeitstrafe. Und dies, bis dato immer noch zunehmend wahrscheinlich, bis ans Lebensende! Das mag dramatisch klingen. Es ist es aber. 
Die diesbezügliche öffentliche Diskussion kommt jedoch langsam in die Gänge. Mangels anderer Möglichkeiten gilt es daher, diese nach Kräften zu unterstützen, sie mit möglichst vielen authentischen Fallgeschichten zu ,füttern‘, sich selber oder Angehörige dazu zu motivieren, sich offen und kritisch darüber mit Andern, mit Bekannten, mit Nachbarn, mit ausgesuchten Medienschaffenden auszutauschen, über die sozialen Medien das Interesse an diesbezüglichen Missständen zu fördern. 
Und nie aufzugeben, denn wie heisst es doch so schön? Es ist noch längst nicht aller Tage Abend. 

Parteigutachten 

Strebt jemand, etwa nach mehrmaliger Enttäuschung durch bisherige Gutachten, ein Privatgutachten an, dann sind zunächst vor allem zwei Dinge zu bedenken: 1.: Es wird teuer und die Justiz trägt zu dessen Kosten nichts bei – woher soll das Geld kommen, wenn man keine wohlhabende Angehörigen, nichts hat ausser sein Gefangenenpekulium? Kontakte suchen, mit Hilfe etwa von FM (Freie Mitarbeiter/innen der Justiz als Gefangenenbesucher/innen), Priester, Heilsarmee, alle Möglichkeiten ausschöpfen. Leserbriefe schreiben – manchmal kriegt man Antwort von besorgten Leser/innen. Privatannoncen lesen und da und dort mal mutig ein paar Zeilen hinschreiben. Vielleicht findet man jemanden, der besonders vielseitig interessiert und aktiv ist in den sozialen Medien. Crowdfunding könnte eine Möglichkeit sein, wenn jemand glaubhaft und – wenn irgend möglich untermauert – ein Unrecht aufzeigen kann. 
Und 2.: Richter tendieren bei Privatgutachten meist dezidiert dazu, solche Parteigutachten im wörtlichen Sinne als ,,parteiisch“ zu bezeichnen und mehr oder weniger grundsätzlich davon auszugehen, dass es diesen an der nötigen Objektivität mangele, dass sie also die Interessen des Auftraggebers oder der Auftraggeberin mehr gewichten als jene der Strafverfolgung bzw. der Vollzugsbehörden. Es wäre daher bei der Wahl der Gutachterperson empfehlenswert, darauf zu achten, dass es sich um eine möglichst renommierte solche Fachperson handelt; jemand von hoher öffentlicher Glaubwürdigkeit, eine sog. Koryphäe. Da braucht es Geduld, ev. Vermittlung durch Aussenstehende. Und natürlich auch möglichst die Hilfe eines Anwalts. Die Gratis-Rechtsauskunft für Gefangene in Bern … : 


031-301 9275 / 031-302 0161, Di. Do, Fr. 09-12:00 + 14-17:00h david.muehlemann@humanrights.ch 

… kann u. U. auch einen erfahrenen Anwalt vermitteln, der bei Mittellosigkeit des betreffenden Gefangenen bereit ist, ohne Kostenvorschuss zumindest eine erste Vorprüfung des Falls anhand zu nehmen und dann ggf. einen Antrag auf amtliche Verteidigung bzw. Verbeiständung einzureichen. 
Hat man einmal eine geeignete Gutachterperson, dann gilt es, ihr bei der persönlichen Exploration so offen wie möglich zu begegnen. Eine solche, privat beauftragte akkreditierte Gutachterperson wird sich sehr wohl bewusst sein, dass sie gerade dann am ehesten überzeugen kann, wenn sie ungeachtet dessen, wer für ihre Arbeit bezahlt, gänzlich objektiv bleibt in ihrer Arbeit. Sie wird denn auch nicht darum herumkommen, auch ungünstige Fakten zu besprechen und festzuhalten, Das muss nicht heissen, dass dann das Gutachten ebenso oder ähnlich ungünstig ausfällt wie frühere vom Gericht oder von den Vollzugsbehörden beauftragte solche. Denn immerhin können letztere sehr wohl von gewissen Erwartungshaltungen beeinflusst (gewesen) sein. Dass verschiedene Gutachterpersonen nicht selten zu verschiedenen Befunden und Einschätzungen kommen, ist hinlänglich bekannt. So kann etwa ein privat beauftragtes Gutachten, auch bei – oder gerade dank – strengster Objektivität seitens der Gutachterperson durchaus für den oder die Auftraggeber/in wesentlich günstiger lauten und u.U. auch einen Richter überzeugen. 
Auch eine privat bestellte Gutachterperson ist sich bewusst, dass sie ihr Gutachten zuhanden der Justizvollzugsbehörde und letztlich eines Gerichts erstellt. Sie weiss sehr wohl, dass sie sich der Kritik aussetzen und an Glaubwürdigkeit einbüssen würde, wenn sie sich nicht genau gleich wie direkt gerichtlich bestellte Gutachter an die Standesregeln hielte. Daher muss sie genauso von einem rechtskräftigen und damit ,rechtlich unbezweifelbaren‘ Urteil ausgehen wie gerichtlich bestellte Gutachter/innen, auch wenn der oder die Verurteilte noch so vehement seine Unschuld beteuert. 
Die privat beauftragte Gutachterperson kann und darf hingegen auf Fehler in früheren Gutachten und auf allfällige Widersprüche unter oder zwischen solchen, wie auch zwischen solchen und den Urteilen oder anderen Berichten hinweisen. Und er/sie darf natürlich in den Vorgutachten allfällige forensisch-psychiatrische Mängel, Unkenntnis oder Fehlinterpretationen von Statistiken, nicht bzw. zu wenig beachtete wissenschaftliche Erkenntnisse, ein Abstützen auf veraltete solche und auch Abweichungen von standesmässig korrekten Vorgehensweisen etc. aufzeigen. Und sie kann selbstverständlich würdigen, wenn der oder die Auftraggeber/in über die Jahre in Haft wichtige positive Veränderungen aufzeigen kann – selbst wenn vielleicht nach wie vor jegliche Schuld bestritten wird. 
Bei alledem jedoch darf er im Einzelnen selbstverständlich auch zu eigenen, allenfalls auch von Vorgutachten wesentlich abweichenden Befunden kommen (solange er/sie eben auch davon Abstand nimmt, das gerichtliche Urteil anzweifeln zu wollen). Konkret: solche abweichenden Befunde dürfen keinesfalls in einem Anzweifeln der Schuld des Probanden wurzeln noch auch nur einen solchen Anschein erwecken. 
Denn ein Gerichtsgutachten nach einem rechtskräftigen Urteil – ob mit Verwahrung oder lediglich mit einer Zeitstrafe – hat ,nur‘ der Einschätzung künftiger Gefährlichkeit, des Grades einer allfälligen Rückfallgefahr, der Abklärung der psychischen, geistigen und ev. neurologischen sowie, soweit relevant, der körperlichen Gesundheit des Probanden zuzudienen. Wozu, ob nun zu Recht oder Unrecht, eine rechtskräftige Verurteilung nun einmal als die wohl wesentlichste Grundlage schlechthin gilt. 
Man könnte also bei einer Gutachterperson von einem Quasiverbot der Unschuldsvermutung (egal wie viele Anzeichen es dafür geben mag) sprechen: Nicht nur fällt nach einer rechtskräftigen Verurteilung das Gebot der Unschuldsvermutung bezüglich der konkreten Anklage dahin, es wird für Gerichtsgutachter/innen in deren schriftlichen oder mündlichen Äusserungen gegenüber dem Gericht oder den Vollzugsbehörden de fakto zu einem Verbot. 

Grundsätzlich höchst eingeschränkte Entlassungschancen bei Verwahrung 

Nun muss man auch wissen, dass in der heutigen Stimmung, besonders so im Kanton Zürich für hier Verurteilte, längst nur noch wenige Möglichkeiten bestehen für eine eventuelle Entlassung aus einer Verwahrung (Art. 64 StGB) oder, wenngleich mit u.U. besseren Chancen, aus einer geschlossenen Therapiemassnahme (,kleine Verwahrung‘ nach Art. 59 StGB): 

1) Erfolgreicher Abschluss einer deliktorientierten Therapie. Diese dauert meist viele Jahre, in nicht wenigen Fällen gar Jahrzehnte. Im Kanton Zürich ist dafür zwingend und ausschliesslich der Psychiatrisch-Psychologische Dienst des Kantons Zürich (PPD) ermächtigt. 

2) Ein Gerichtsgutachten, welches zu einem derart günstigen Befund gelangt, dass ,,davon ausgegangen werden kann, der Gefangene stelle keine (ernsthafte) Gefahr (mehr) für die Gesellschaft dar“, wie es so oder ähnlich in den ,Leitfäden‘ der Vollzugsbehörden steht. Woraus geschlossen werden kann, der Gefangene sei also höchstwahrscheinlich nicht mehr gefährlich, würde nicht rückfällig werden. Dabei wird in vollzugsbehördlichen und staatsanwaltlichen Stellungnahmen heute nicht selten darauf hingewiesen, dass die Öffentlichkeit 100%ige Sicherheit verlange. Ein solches Gutachten muss übrigens auch auf ,,erfolgreichen Abschluss einer Therapie“ gemäss 1) oben erfolgen. Zudem müssen dann alle Haftlockerungsschritte und eine bedingte sowie letztlich auch definitive Entlassung aus der Verwahrung jeweils der Fachkommission* vorgelegt und von dieser ggf. gutgeheissen werden (*kurz ,,Fako“ – ein nach dem Zollikerberg-Mordfall im Jahre 1994 durch die Politik eingeführtes, jeweils geheim tagendes politisches Instrument als zusätzliches ,Schutzschild‘ gegen mögliche Rückfälle während Urlauben und nach Entlassungen bei ,,gefährlichen Straftätern“). 

3) Der oder die Gefangene kann einen neuen Unschuldsbeweis geltend machen, der zur Zeit der Verurteilung dem Richter nicht bekannt war, und somit ein Revisionsgesuch stellen, woraus ein Wiederaufnahmeverfahren resultieren kann. Dabei würde das gesamte Verfahren von einst unter dem Licht des neuen Beweises neu aufgerollt. Im Erfolgsfalle würde er oder sie allenfalls freigesprochen, entlassen und für die ungerechtfertigte Haft entschädigt. (Bei Entlassungen aufgrund von Erfolgen nach Punkt 1) und 2) oben gäbe es keine Entschädigung. Ausser bei allfälliger Überhaft, etwa wenn ohne eindeutige Notwendigkeit die Haft über eine Frist hinaus fortbestand, oder – was wohl sehr schwierig sein dürfte – wenn eine wegen erwiesenermassen unrechtmässig erstellter Begutachtung zu Unrecht eine geschlossene Massnahme verhängt worden war. Alleine aufgrund eines späteren günstigen Gutachtens, das allenfalls zu einer Entlassung führt, wird der Staat nicht per se für eine bisherige Verwahrungshaftdauer entschädigungspflichtig.)