LESERBRIEF an TAGES-ANZEIGER Zürich, Redaktion Leserbriefe

September 24, 2020

(TA vom 19. August 2013; Der Mann der sich zu Tode hungerte, und TA vom 20. August 2013; „Man muss den Tod in Kauf nehmen“)

Nach einer 2011/2012 durchgeführten Umfrage unter 37 Sicherheitsverwahrten (Art.54 StGb) und Massnahmegefangenen (Art.59 StGb) gaben knapp 70% der Probanden die Ungewissheit als schlimmstes Leiden in ihrem Haftalltag an. Durchschnittlich wurde dabei die Schwere des Leidens auf einer Skala von 0 (kein Leiden) bis 5 (sehr starkes Leiden) mit 4,6 Punkten angegeben. Gefolgt von Einsamkeit (3,8), Hoffnungslosigkeit (3,5), Willkür (3,4), ungerechte Behandlung (3,3), und Angst.

Gut jeder Fünfte gab an, unter Depressionen zu leiden und knapp jeder Zehnte hatte Suizidgedanken.

9 von 10 Probanden glauben, dass ihr Verwahrungs-/Massnahmeurteil
und/oder das diesem zugrundeliegende Gutachten durch die aktuelle Politik und die Medienberichterstattung beeinflusst wurde.

Ich möchte die Frage aufwerfen, ob Frau Baumann-Hölzle bei Kenntnis dieser Umfrageergebnisse auf gewisse Fragen in ihrem Interview nicht vielleicht entscheidend anders geantwortet hätte?

So oder so erstaunt mich, dass bei Haft ohne echte Entlassungsperspektiven überhaupt die Frage von „angemessenen Haftbedingungen“ herangezogen wird. Auch ein goldener Käfig ist ein Käfig ist ein Käfig ist ein Käfig… Inhaftierung ohne echte Entlassungsperspektive, also dauerhafte Ungewissheit in Haft, ist psychische Folter. Die erschütternde Geschichte des 32jährigen Gefangenen von Zug legt davon einmal mehr trauriges Zeugnis ab.

Immer wieder höre und lese ich ähnliche Äusserungen wie diese in einem Kommentar eines Verwahrten: „Legt mich meinetwegen in Ketten bei Wasser und Brot, aber nennt mir wenigstens ein Entlassungsdatum.“

Für viele Verwahrte klingt es zynisch, wenn bei einem Entscheid über Leben und Tod vor allem über „den Respekt des freien Willens des Gefangenen“ diskutiert wird. In welchen anderen Bereichen im Haftalltag wird denn sonst überhaupt noch der freie Wille eines Verwahrten ernst genommen?

B.M.; www.fair-wahrt.ch die Interessengemeinschaft für Sicherheitsverwahrte