Jahresbericht 2018

March 1, 2019

Liebe Mitglieder, Gönnerinnen und Gönner, sowie Freunde der IG „Fair-wahrt?“
Sehr geehrte Damen und Herren

Auch das vergangene Jahr verlangte dem Schreiber und auch unserem Vorstand, wie schon 2017, ausserordentlich viel Zeit und Arbeit ab. Im Jahresbericht 2017 war die Rede von unserem Versuch, ein Grundsatzurteil zu Voraussetzungen und Vollzugsart von geschlossenen Massnahmen endlich auch fĂŒr die Schweiz zu erstreiten. Bekanntlich sitzen hierzulande Menschen, welche nach den Massnahme-Artikeln 59 oder 64 StGB prĂ€ventiv eingesperrt sind, in den meisten FĂ€llen in geschlossenen Strafanstalten. Da fristen sie, teilweise jahrzehntelang, ihr Leben in dauerhafter völliger Ungewissheit darĂŒber, wann und ob sie ĂŒberhaupt je die Freiheit wieder erlangen werden. Das ist nicht weniger als reinste psychische Folter. Ein solcher Vollzug – meist mitten unter Strafgefangenen und unter dem gleichen Haftregime weit ĂŒber ihre eigene Haftstrafe hinaus – ist in diverser Hinsicht unzweifelhaft menschenrechtswidrig. Es wĂ€re lĂ€ngst an der Zeit, dass der EuropĂ€ische Gerichtshof fĂŒr Menschenrechte auch die Schweiz dazu bringt, ihr menschenverachtendes und EMRK-widriges Verwahrungs- und Massnahme-Regime zu ĂŒberarbeiten und wieder in Einklang mit den Grundrechten zu bringen, Ă€hnlich wie dies 2010/11 Deutschland tun musste. Schliesslich hat sich auch die Schweiz mit ihrer Unterzeichnung und Ratifizierung der Konvention seinerzeit dazu verpflichtet.

Beim Stand Dezember 2017 war noch der Entscheid unserer Bundesgerichtsbeschwerde hĂ€ngig. Mittlerweile, nach einem weiteren Jahr aufzehrender Arbeit mit Aktenbergen und nach insgesamt enormen Anwaltskosten * (trotz von diesen gewĂ€hrten, grosszĂŒgig reduzierten AnsĂ€tzen) wurde nun, just vor wenigen Tagen, klar: Der erste Versuch, mit einer solchen Klage gegen die Schweiz in Strasbourg beim EGMR vorstellig zu werden, scheiterte letztlich leider geradezu erbĂ€rmlich.

Kurze Zusammenfassung: Das Obergericht hatte anfangs 2018 auf das 2017 eingereichte Revisionsgesuch des Schreibers in fast schon verĂ€chtlichem Tonfall mit einem Nichteintretens-Entscheid reagiert. Dabei zweifelte es die Tauglichkeit des neues Beweises kurzerhand an, verweigerte jedoch glattweg dessen PrĂŒfung, obwohl der eigebrachte Beweis von einem, im Strafvollzug tĂ€tigen, hochdotierten Mediziner verifiziert worden war. Stattdessen behauptete das Obergericht einfach, der Beweis sei „zu spĂ€t“ vorgebracht worden; er hĂ€tte schon seinerzeit anlĂ€sslich der (lĂ€ngst in Rechtskraft erwachsenen) Obergerichtsverhandlung eingebracht werden können. Dagegen spricht allerdings, dass der Beweis damals eben gerade nicht bekannt war – weder dem Gericht noch dem Angeklagten oder dessen Verteidigung – da er ja erst gegen Ende 2016 entdeckt wurde. Dies ignorierte das Obergericht und nannte das Revisionsgesuch sogar „rechtsmissbrĂ€uchlich“.

Dieser Entscheid wurde dann vom Bundesgericht am 1. Februar 2018 in einem sehr dĂŒnnen Urteil aufrecht erhalten, sodass nur noch der Gang an den EuropĂ€ischen Gerichtshof fĂŒr Menschenrechte blieb.

Dann geschah, was eigentlich nicht geschehen dĂŒrfte: Obwohl reichlich frĂŒhzeitig mandatiert, reichte der Anwalt, eigentlich ein ausgewiesener Menschenrechtsspezialist, die Klage buchstĂ€blich erst am letzten Tag der Sechsmonatefrist ein. Diese Frist ist fĂŒr EGMR-Klagen verbindlich; sie beginnt am Tag des abweisenden Urteils der höchsten gerichtlichen Instanz des zu beklagenden Landes zu laufen und endete fĂŒr uns somit am Samstag den 1. August 2018. Wohl aufgrund ArbeitsĂŒberlastung passierten dem Anwalt in der Eile diverse Formfehler, welche dazu fĂŒhrten, dass das EGMR die Klage innert zwei Wochen nach deren Einreichung aufgrund „Verletzung der vorgeschriebenen formellen Vorgehensweisen“ abwies. Unter anderem sei ein veraltetes EGMR-Klageformular verwendet worden und gewisse zwingende Gerichtsakten fehlten in den Beilagen. Eine Korrektur der Fehler war nicht mehr möglich, da die Frist eben schon abgelaufen war; ein verzweifelter Versuch des Schreibers, der seiner Ansicht nach nicht fĂŒr Fehler seines Anwalts verantwortlich gemacht werden dĂŒrfte, den Gerichtshof in Strasbourg per DRINGEND-Kurier umzustimmen, blieb erfolglos. Der verantwortliche Anwalt, der seinerseits ebenso erfolglos intervenierte, erstattete immerhin den schon geleisteten Vorschuss von 10‘000 Franken auf die veranschlagten Fr. 20‘000 zurĂŒck.

Parallel dazu reichten wir, letztlich auch mit Hilfe einer belgischen Anwaltskanzlei, die fĂŒr Erfolge in VergleichsfĂ€llen berĂŒhmt wurde, einen weiteren Versuch ein mit dem Argument der sogenannten „continuing violation“, der anhaltenden (Menschenrechts-)Verletzung. Demnach wĂŒrde die Sechsmonatefrist solange nicht zu laufen beginnen, wie die Verletzung weiterhin anhĂ€lt – in diesem Falle die weitergehende Internierung aufgrund eines seinerzeitigen Urteils das ohne Kenntnis massgeblicher Unschuldsbeweise zustande gekommen war, sowie zudem u.a. die menschenrechtswidrige prĂ€ventive Internierung in einer Strafanstalt. Auch das EGMR sei gegenĂŒber dem KlĂ€ger zu einem fairen Verfahren verpflichtet, wie es solches den Mitgliedstaaten ja selber explizit und zwingend vorschreibe.

Diesmal benötigte das EGMR statt der zwei Wochen fĂŒr die formelle VorprĂŒfung wie bei der ersten Eingabe zwar vier Monate – wies dann aber auch diese Eingabe schliesslich erneut zurĂŒck, rĂŒgte Ablauf der Frist und ging auf die vorgebrachten Argumente gar nicht ein.

Dies alles sei auf die massive Überlastung des EGMR durch hunderttausende hĂ€ngige Klagen aus allen MitgliedslĂ€ndern zurĂŒck zu fĂŒhren. Nur mit rigorosen, komplizierten formellen Anforderungen, die korrekt einzuhalten ein grosser Teil der Klagenden in den Mitgliedsstaaten gar nicht in der Lage sein dĂŒrften, glaube man in Strasbourg einen Kollaps des EMRK-Gerichtshofs vermeiden zu können, wie der Schreiber unlĂ€ngst einem Medienbericht entnehmen musste. Die Wartezeiten bei den hĂ€ngigen Verfahren könnten bis zu acht Jahre betragen.

Wir können nur raten, sich davon nicht entmutigen zu lassen, sondern bei jeder sich bietenden Gelegenheit – das sind bei Verwahrten etwa die jĂ€hrlichen obligatorischen ÜberprĂŒfungen – alle Hebel einzusetzen im Versuch, nicht nachvollziehbare abschlĂ€gige Urteile weiter zu ziehen. FrĂŒher oder spĂ€ter wird die Politik erkennen mĂŒssen, dass sie ihre geradezu irrsinnige Strategie der „absoluten Sicherheit“ auf Dauer nicht aufrecht erhalten kann, will man nicht letztlich auf einen totalitĂ€ren Staat zusteuern. Dass sich ein solches Umdenken anzubahnen scheint, zeigt die in den vergangenen Jahren hĂ€ufiger gewordenen kritischen Medienberichte und Fachdiskussionen zu diesem Thema.

ErgĂ€nzender Satz von U.H. – HV 2019:“Die zweite – fast ebenso nichtssagende bis nachlĂ€ssige – Ablehnung durch den EGMR, relativiert die sogenannten Formfehler der zustĂ€ndigen RA’s erheblich! Man muss politische GrĂŒnde fĂŒr die Ablehnung des sehr gut recherchierten und begrĂŒndeten Revisionsantrages von RA B.R. vermuten“.

2018 war leider auch ein Jahr nicht weniger ausgebliebener JahresbeitrĂ€ge. Gleichzeitig mussten wir gegenĂŒber dem Vorjahr einen RĂŒckgang an Spenden verkraften. Hinzu kamen einige Sonderauslagen. Eine grössere solche stellte etwa unser Beitrag zugunsten der neuen unentgeltlichen telefonischen Rechtsauskunft fĂŒr Gefangene dar (Tel.-Nr.: 031 – 301 9275): Deren Budget fĂŒr den Betrieb 2019 war noch ungesichert, sodass auch wir dem Spendenaufruf der Betreiber (humanrights.ch) mit einem, gemessen an der Höhe des Fehlbetrags allerdings relativ bescheidenen Beitrag folgten.

Wie jedes Jahr danken wir von der IG-Leitung und vom Förderverein den Mitgliedern und anderen UnterstĂŒtzern fĂŒr ihre Mitwirkung und fĂŒr BeitrĂ€ge und Spenden. Dem nĂ€chsten Rundschreiben, bald nach der diesjĂ€hrigen Jahresversammlung vom 25. MĂ€rz, wird wieder ein Einzahlungsschein beiliegen.

Abschliessend noch zu einem traurigen Ereignis: Wir betrauern den Hinschied am 24. Februar einer ausserordentlichen Persönlichkeit; einer Dame, die unsere BemĂŒhungen ĂŒber Jahre hinweg besonders grosszĂŒgig mit Spenden unterstĂŒtzt hat. Den Hinterbliebenen sprechen wir unser herzliches Beileid aus. Ein Ehrenmitglied unseres Vereins hat stellvertretend fĂŒr den Schreiber und fĂŒr alle unsere Mitglieder, Gönnerinnen und Gönner an der Abdankung teilgenommen. Ein Kranz und Trauerbekundungen wurden, auch in unser aller Namen, abgegeben. Ihr gebĂŒhrt fĂŒr ihre Grossherzigkeit und beispiellose Aufopferung fĂŒr viele Menschen in Not unser nachhaltiger Dank und unser aller Respekt!

Mit allseits besten WĂŒnschen und herzlichen GrĂŒssen, die IG „Fair-wahrt?“ und der Vorstand derer Fördervereins 

* Die Kosten fĂŒr dieses Verfahren konnten, unabhĂ€ngig vom Verein, dank privaten Spenden und eigenen Mitteln des Schreibers und seines persönlichen Umfelds getilgt werden